3. Februar 2021

Herta Günther (1934 - 2018)

Als die Dresdner Malerin 75 wurde, schenkte sie mir „zwei Weiber“. Als sie 80 wurde revanchierte ich mich mit einem „heimlichen Lächeln“. Zu ihrem 85. war sie nicht mehr da. Die Galerie Himmel gedachte ihrer mit einer wunderbaren Ausstellung und einem opulenten Katalog unter dem Titel „C’est la vie“. Meine Hommage kann auf der Homepage der Galerie nachgelesen werden.





Das heimliche Lächeln

Zum Achtzigsten von Herta Günther


Sie warten tagein, tagaus. Sie wissen nicht, worauf sie warten. Wir wissen es auch nicht. Sie sitzen auf Stühlen oder Sofas an runden Tischen in Cafés, Kneipen, Bars. Die Damen. Die Girls. Die Weiber. Vielleicht haben sie es auch längst aufgegeben und tun nur noch so, als würden sie warten. Sie lächeln lasziv. Sie rauchen Zigaretten mit und ohne Spitzen. Ihre Blicke verlieren sich aus großen Augen. Kuhaugen. Mondaugen. Mandelaugen. Ein wenig hängen die Lider. Schwer von Schatten senkt sich der eingeübte Schlafzimmerblick. Erotische Verführung oder Schläfrigkeit. Vermutlich wissen sie es selbst nicht so genau. Die Grazien. Die Schönen. Die Verblühten. Ihre Gesichter geschminkt. Sinnliche Lippen signalroter Schnuten. Ihre Nasen gepudert. Zumeist sind die auf 

runden Tischen stehenden Gläser halb leer. Mutmaßlich würde keine sagen, die Gläser seien halb voll. Wir auch nicht. Wir wünschten, es käme endlich irgendein Kavalier herbei, verbeugte sich, hielte ihnen seinen gewinkelten Arm hin, auf daß sie ihren Arm hineinlegen und mit dem Herrn davongehen. Aber keiner kommt. Egal ob Rosi Nante oder Eulalie, die kleine Traurige oder die Femme fatale, sie warten tagelang, wochenlang, manche auch jahrelang. Worauf bloß? Wozu nur? Sie warten wohl darauf, von Herta Günther gemalt zu werden.


Treten Sie ein, meine Damen und Herren, in das Panoptikum der Malerin. Was Sie zu sehen bekommen, zeigt sich Ihnen ganz unmittelbar. Keine Verstellung, kein doppelter Boden, keine Schmuggelware. Jede Menge randläufige Etablissements und Existenzen. Ebenso unzeitgemäß, wie  zeitlos in Mode. Als ob die Bilder lange schon zum Leben dazu gehören. Nichtalltägliches, vom Alltag absorbiert. Anfangs in ihrer verlockenden Farbigkeit ein Kontrapunkt zu grauem Einerlei und langweiliger Gleichmacherei. Bald aber alte Bekannte, mit denen jedes Wiedersehen neuerlich gefeiert wird. Gassen, Boulevards, Absteigen, Varietés, Bierstuben, Hafenschänken, Kaffee- und Wirtshäuser. Stille Trinker, prahlende Krakeeler, Zeitungsleser, Halbnackte und Volltrunkene, Halbbesoffene und Ganzakte, Passanten paarweise und allein. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café. Am Nebentisch fällt Ihnen ein markantes Gesicht auf. Das habe ich doch schon mal gesehen, denken Sie. Plötzlich paßt zu dem Gesicht, das Sie vermeintlich kennen, auch das Interieur ringsherum. Selbst der etwas krumme Oberkellner und die ein wenig O-beinige Serviererin mit dem kleinen weißen Schürzchen passen ins Bild. Bis Sie verstehen, daß Sie ein Herta-Günther-Déjà-vu haben, sich mitten in einem Bild der Malerin befinden, im Café Günther, in Günthers Bierstube oder im Günthereck sitzen.

Zeichnen, wie es wirklich ist. Malen, was zu sehen ist. Freunde und Bekannte sollen den Günthers gelegentlich Fotos gebracht haben, auf denen Personen zu sehen sind, die den Figuren der Malerin gleichen. Oder die noch gar nicht gemalt waren, es aber, ob ihres Aussehens, wert seien, demnächst gemalt zu werden. Herta Günther malt nicht vorm Modell. Auch fotografiert sie keine potentiellen Modelle, um sie hernach abzumalen. Höchstens fotografiert sie mit dem Kopf. Selten wird unterwegs skizziert. Ab und zu werden Farben, Licht, Formen in Stichwörtern festgehalten. Gemalt aber wird aus der Erinnerung. Die Gesichter Revue passieren lassen. Physiognomien aus der Sammlung Günther. Nicht so abgründig verwissenschaftlicht wie beim Schweizer Pastor Lavater, der im 18. Jahrhundert mit seinem vierbändigen Werk "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe" für Furore sorgte. "Menschenkenntnis" und "Menschenliebe" freilich finden sich bei Herta Günther zur Genüge. Ihre Figuren gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis. Es sei eine Schule des Sehens, sagt die Malerin. Für sie wie für das Publikum. Eine Sichtweise annehmen, die die Andersartigkeit und das Andersaussehen zu akzeptieren vermag. Nicht nur abschätzig die verrückten Typen sehen. Am ehesten läßt das Günthersche Gesichteralbum an den italienischen Regisseur Fellini denken, der nach eigenen Auskünften "alle Gesichter dieses Planeten" sehen, ein Gesicht "mit allen Gesichtern, die es überhaupt geben kann" vergleichen wollte. Jedoch die Vergleiche hinken. Deshalb reden wir gar nicht erst von Herta Günthers Lehrern, nicht von den Vorlieben und ebenso wenig von Albert Ebert. Schon gar nicht wollen wir Vorbilder bemühen. Eigenartig. Das Wort "Vorbild" erfährt hier seine eigentliche, wortwörtliche Bedeutung. Können doch "Vorbilder" diejenigen Bilder sein, die vor den eigenen Bildern stehen, zu Vorzeiten, also vorher entstanden sind.


Aber Herta Günthers Vorliebe zum Laissez-faire, ihre Paristräume und Ungarnfahrten könnten thematisiert werden. Wie auch die Vielfalt der Kopfbedeckungen, die wir in ihren Bildern zu sehen bekommen. Als ob die Malerin im Zweitberuf Putzmacherin oder, wie es eleganter heißt, Modistin wäre. Schlapphut und Klapphut. Glockenhut und Filzglocke. Breitkrempiger Sommerhut und asymmetrischer Winterfilz. Walkmütze und Kreissäge. Florentiner und Barett. Lady Flapper und Fedora. Gatsby Kappe und Ballon Cap. Auch die Exoten fehlen nicht. Etwa der Damentoque, was eine weiche Kopfbedeckung ohne oder mit schmaler, aufgerollter Krempe meint. Oder der Trilby, der ein kompakter Hut ist, mit dünner, hinten verstärkter und nach oben gebogener Krempe sowie beidseitigen Einbuchtungen im vorderen Kopfteil. Selbst der so genannte Anlaßhut findet sich, ein für besondere Anlässe gefertigtes Kunstwerk, zumeist mit Federn oder Blumen geschmückt. Jedes Lächeln, und wenn es noch so heimlich ist, fühlt sich in besonderer Weise behütet. Aber was ist mit den Männern, was mit den Stadtlandschaften, den Kneipenlandschaften? Wer Jürgen Günther, den Mann der Malerin, den Comiczeichner und "Vater" von "Otto & Alwin" kennt, weiß, wie gern sie ihn durch ihre Bilder huschen läßt. Einmal entdeckt, sucht man ihn auf jedem anderen Bild. Das könnte zum Spiel ausarten, gleich der Enträtselung von Vexierbildern. Häufig belebt er in Rückenansicht einsame Straßen oder Elbuferwege oder er gesellt sich zu den Wartenden in irgendeiner Kneipe. Wer meint, Kneipen, die diesen Stempel wirklich verdienten, habe es zu Zeiten von HO und KONSUM gar nicht gegeben, irrt gewaltig. Mag sein, es war kein "Café de Flore" dabei, keine "Deux Magots" und kein "Café de la Paix". Aber verrucht und verraucht konnte es gerade auch hierorts zugehen. "Konzert-Klause" und "Erlenklause". "Höhle's Bierstuben" und "Schäfer-Eck". "Narrenhäusel" und "Neustädter Faß". "Grüne Schänke" und "Hafenschänke". "Konzertcafé" und "Mokkastube". "Goldquelle" und "Goldenes Hufeisen". Auch wenn die von Herta Günther ins Bild geholten Kneipen meistens ungenannt bleiben, es sogar ungewiß ist, ob sie überhaupt dresdnerisch sind, hat sie uns wenigstens eine Ahnung davon bewahrt. Aber was ist nun mit den Männern? Wenn sie nicht gerade einen Kümmel trinken, halten sie sich im Bildhintergrund auf, wirken mißmutig und verschlagen. Es scheint, als stünden sie dieser Wucht weiblicher Farbigkeit äußerst skeptisch gegenüber. Sie sind Kneiper, Kellner, Schiffer, Jazzer, Klavierspieler. Sollte unter ihnen, bei aller Unwahrscheinlichkeit, doch einmal einer sein, der sich die Seele aus dem Leib fiedelt, müssen wir nicht mehr nur an das Erich-Kästner-Gedicht "Stehgeigers Leiden" denken: "Ach, wie gern läg ich in meinem Bette!/Nacht für Nacht schläft Hildegard allein./Wenn mein Fiedelbogen Zähne hätte,/sägte ich die Geige kurz und klein." Geraume Weile schon erinnern uns auch Herta-Günther-Bilder an den selten gewordenen Berufsstand dieser kleinen Möchtegern-Paganinis.


In der Wahl ihrer Ateliers liebt Herta Günther die Vogelperspektive. Viele Jahre hoch über Altmarkt und Wilsdruffer. Als die noch nach Ernst Thälmann hieß und Aufmarschstraße war, konnte sie von dort die Paraden abnehmen, wenn unten Erster Mai und Tag der Republik vorbeirollten. Trotzdem kamen "Winkelemente" aller Art nicht in Frage. Später die Ateliermansarde in Pieschen, von wo der Blick zu Hafenmole, Ostragehege, altstädtischer Silhouette und Lößnitz schweift. Jüngst in Dresden Mitte, neunte Etage, wurde ihr ein Balkon mit Südblick zuteil, übern Bahndamm hinweg rückt es den Freitaler Windberg ins Bild. Stellen wir uns ein Ereignis vor, das weniger traumatisch aber immerhin traumähnlich über die Lebensbühne gehen könnte. Eines schönen Tages kommen die Modelle, um ihre Malerin zu besuchen. Weil es ein paar Hundert sein dürften, würden sie das Treppenhaus über alle neun Etagen bevölkern. Eine Polonaise à la française und Herta in der Neunten säße verschmitzt in einer Chaise à la Louis seize. Bis hinab auf die Straße schlängelte sich die Pracht, eine Woge roter Haare, ein Defilee knalliger Münder wäre das. Sie kämen, um zu plaudern, zu tratschen, zu munkeln. Das wäre ein Zwitschern, Zirpen, Jubilieren. Sie nähmen Tee, Kaffee oder Frappé, hier ein Pralinee, dort ein Baiser, da ein Kanapee mit Wollhandkrabbengelee oder gleich ein Soufflé aus Kichererbsenpüree. Manch eine suchte überschwänglich Trost an der Schulter der Malerin und bekäme reichlich davon, immerhin gehören sie alle zur Familie. Die eine oder andere entdeckte an den Wänden ihr gerahmtes Konterfei, bewunderte den eleganten Strich, die schwungvolle Kontur, den gekonnten Farbauftrag. Dann zückte sie verstohlen ihre Puderdose, vergliche verschämt im Dosenspiegel Kopie mit Original. Im Hintergrund stünde für den Fall der Fälle der Mann der Malerin bereit und sagte ab und zu: "Kinder, wie die Zeit vergeht". Gelassen und wenig imponiert von allem Trubel folgt Herta Günther unverdrossen ihrem Stil, ihren Motiven, den Erinnerungen und Träumen. Sie beeindruckt damit, wie sie unbeeindruckt bleibt von ehemals ewiggestrigen Realismusvorgaben, abstrakter Besserwisserei, kopfstehender Angeberei oder bis heute unausrottbaren Marktregeln. Wo Herta Günther draufsteht, gibt es Menschenkinder mit auffallenden Frisuren, melancholisch blickenden Augen, üppigen Nasen, und immer wieder springt ein Lächeln aus den Bildern heimlich auf unsere Lippen.

(erschienen im Katalog „Lebensspuren“, Galerie Leo Coppi, Berlin 2014)