3. Februar 2021

Zum 85. Geburtstag des in Weimar lebenden Dichters Wulf Kirsten schenkte ihm seine Geburtsgemeinde Klipphausen bei Meißen einen „literarischen Wanderweg“,  konzeptionelle Idee Thüringer Literaturrat e.V. mit Unterstützung des S. Fischer Verlages. Von Klipphausen durch das Tal der „Wilden Sau“ zur Neudeckmühle bis nach Röhrsdorf führt der Weg, an dem auf Metalltafeln 19 Gedichte von Wulf Kirsten zu lesen sind. Einweihung des Weges war am 23. Juni 2019 mit einer Feierstunde in Schloß Klipphausen. Ich durfte dem Freund die Festrede halten.


Vor der Feier, Foto (c) Tomas Gärtner

Sieben Sätze über Wulf Kirsten

ODER

Sieben Wegmarken einer Freundschaft


Erster Satz - „mit meinesgleichen“

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, einem Dichter zu begegnen? Für mich, der ich damals als Ingenieur mein Geld verdient habe, war unbezahlter Urlaub eine unabdingbare Voraussetzung, um Wulf Kirsten kennenlernen zu können. Als ich ihm schließlich das erste Mal begegnet bin, sah ich ihn als LektoratsMitarbeiter auf der anderen Seite. Das meint die räumliche Situation, in diesem Fall die andere Seite eines langen Konferenztisches. Der Tisch stand im Eibenhof zu Bad Saarow am Scharmützelsee. Das Lektorat des Aufbau-Verlages traf sich Mitte Januar 1987 mit 20 seiner Autoren, denen 12 Verlagsmitarbeiter gegenübersaßen. Keine Presse. Kein Protokoll. Neue Texte wurden gelesen, das Gelesene wurde diskutiert. Nur eine einzige Regel galt: die Debütanten mußten, die Gestandenen konnten lesen. Ich war Debütant. Während das Land die kältesten Nächte mit bis zu Minus 30 Grad über sich ergehen lassen mußte, ging mir, um es vornehm auszudrücken, der Hintern auf Grundeis. Während in der Lausitz die Braunkohle gefror, redeten wir uns die Köpfe heiß. Meine Kladde hält die für mich damals ungewöhnlichste Konstellation am Vierer-Abendbrottisch fest: Christa Wolf, Heinz Kahlau, Wulf Kirsten und Wüstefeld. Spätestens dann und als er nach der Lesung den Debütanten und seine Gedichte vehement begrüßte, wußte ich, daß Wulf Kirsten wohl immer auf Seiten der Dichter gewesen ist.


Zweiter Satz - „ich lob das dörfische gewerbe“

13. Juni 1987 liest Wulf Kirsten auf Schloß Scharfenberg. Wir fahren gemeinsam mit der S-Bahn von Dresden nach Meißen. Am Meißner Bahnhof werden wir erwartet und in einem Geländewagen mit Karacho zum Schloß gefahren. Von wegen Schloß! Damals noch eine halbe Ruine. Während der Lesung sind himmlische Pyromanen am Werk, ein heftiges Gewitter geht nieder. Die Stimmen der Elemente sind stärker, als die Stimme des Dichters. Gespenstisches Intermezzo ohne Schloßgespenst. Halb elf geht mein Bus ab Haltestelle „Schachtberg“ zurück in den Dresdner Osten. In Kopf und Tasche die „erde bei Meißen“. Kurz darauf ein Brief aus Weimar, er habe auf Scharfenberg nur Texte gelesen, die ich schon kenne, deshalb lege er dem Brief etwas Neues bei. Auf blassem Durchschlagpapier ein dunkles Gedicht „stimmenschotter“, nach einer Rumänienreise: „wer aber, herr pfarrer,/wer soll uns begraben,/die wir hierbleiben?/fragen die alten/in den dörfern reihum.“ Waren mit diesen Versen von 1987 auch Klipphausen und die Dörfer reihum gemeint?


Dritter Satz - „verschwägert und verschwistert“

Gibt es statistische Untersuchungen darüber, wie viele Schriftsteller Meißen verträgt? Zu den Sächsisch/Baden-Württembergischen Literaturtagen im September 1991 hielten sich überdurchschnittlich viele dieser Sepzies in Meißen auf. 10 Tage lang buhlten 40 Autoren aus Ost und West ringsum den Burgberg um Aufmerksamkeit. Darunter Martin Walser, Peter Härtling und Günter Herburger; Helga Schütz, Rainer Kirsch und Manfred Streubel. Die Leseorte waren nicht so überfüllt wie nach den Lesungen die Gaststätten. Ob Porzellan zerschlagen oder eine Fummel zerdrückt worden ist, steht nicht in den Annalen. Was jedoch verbrieft ist, auch Wulf Kirsten nahm an den Literaturtagen teil. Wir nutzten einen Nachmittag, um über und durch seine Dörfer zu fahren. Ein Fiat Tipo und Rolfrafael Schröer vervollständigten das Pfadfinderquartett. Entlang der Feldraine und querfeldein kannte sich Wulf Kirsten besser aus als auf den Straßen. Einmal bretterten wir mit dem Fiat in einen Feldweg hinein, so daß die geländetechnische Mühsal fast in allen Teilen (f.i.a.T. = Fiat) zu hören war. Abends fanden wir uns, Thomas Rosenlöcher kam noch hinzu, bei Vincenz Richter ein. Weinselig wurde eine Art Kettengedicht verfaßt und in das Gästebuch geschrieben. Ob Gedicht und Buch noch immer dort zu finden oder längst im Stadtarchiv aktenkundig sind, entzieht sich meiner Kenntnis.


Vierter Satz - „als eidotter in stiller einfalt“

Einmal, das war schon im nächsten Jahrhundert, standen Wulf Kirsten und ich bei Kötzschenbroda am Fluß. Mag sein, wir sinnierten über Röhrichte und Seggenriede. Oder hatten es uns Schwanenblume und Seekanne angetan? Fanden wir gar Spitzkletten, die wir spielerisch auf den Rücken der Dichterfrauen platzierten? Vielleicht fragten wir uns auch, wer es von uns beiden vermochte, eine Butterbemme bis ans gegenüber liegende Ufer springen zu lassen. Womit wir beim Thema waren. Denn das „gegenüber liegende Ufer“ meinte ja die Linkselbigkeit. Mit ein wenig gesteigerter Vorstellungskraft konnten wir über den Niederwarthaer Hang hinweg bis Weistropp und Kleinschönberg blicken, und, wenn wir der sehnsuchtsvollen Weitsichtigkeit erlegen gewesen wären, gar bis Klipphausen. Dann plötzlich nahm uns ein Kuckuck das Wort aus dem Munde. Er rief und rief, daß es eine Lust war, seine Rufe zu zählen. Wie viele Jahre noch? Wollten wir das wirklich wissen? Als wir bis fünfzig gezählt hatten, entzückte uns das Ergebnis. Als wir aber bei hundert angelangt waren, brachen wir die Zählerei ab. Wir fragten uns sogar, ob uns ein Vogelstimmenimitator veralberte. Womöglich angeheuert vom Radebeuler Tourismusbüro sollte der falsche Kuckuck bei den Gästen für gute Stimmung sorgen, damit sie, ob der in Aussicht gestellten hohen Lebenserwartung, frohgemut die Gast- und Weinstuben frequentieren. Gleichwie. Nachdem wir den Kuckuck als falschen Fufzscher entlarvt hatten, kamen in der „Schwarzen Seele“ am Kötzschenbroder Anger süß-saure Flecke auf den Tisch.


Fünfter Satz - „ich garniere meine gedichte“

Mit „ich“ bin natürlich nicht ich gemeint. Kirsten-Leser wissen es längst, dieser Dichter baut seine Verse gern aus Wörtern, die kaum noch gesprochen oder nicht einmal mehr gekannt werden. Aber neben WortSchönheit gibt es auch WortWitz. Wenn Wulf Kirsten lospoltert, bleibt kein Auge trocken. „kandierte kandidatenpflaumen in der essigkruke gebadet … das weltbild auf sehschlitze gesundgeschrumpft … schaumschläger führen den rührbesen … was schon Goethe hat erkannt und gerochen vorzeiten: das durchaus scheißige dieser unserer zeitigen herrlichkeit auf erden … sei bedankt, lieber schwan, es lebe das zentralorgan … kanalräumerlehre abgebrochen wegen geistiger überanstrengung … elende gräpel, ihr, befrackte arschkriecher, scheißhunde, besoffen wie die radehacken … tief im scheibenkleister eingesunken, von winkelbankern eingewunken“. Genug der Beispiele! Ich begehre nicht, Schuld daran zu sein, wenn der literarische Wanderweg wegen ungebührlicher Polterei zurückgebaut werden muß. Aber angemerkt werden darf: auch das Poltern kann die Wegmarke einer Freundschaft sein.


Sechster Satz – „wie ein gemenge aus roggenschrot“

Jeder Wocheneinkauf gewährt mir nicht nur Einblick in unsere Überflußgesellschaft, sondern mein Blick streift auch ein Schild über der Auslage wohlgestalteter Brote und Brötchen: „Unser Bäcker aus Klipphausen“. Angesichts eines Bäckers auf die Spur eines Dichters zu geraten, gibt es etwas Besseres? Regelmäßig werde ich an Wulf Kirstens Brot-Episode aus den „Prinzessinnen im Krautgarten“ erinnert. Statt das in Meißen erstandene frische Pfundbrot zu Hause abzuliefern, verführten sein Duft und der Hunger dazu, auf dem Rückweg nach dem „Ränftel“, wie Wulf Kirsten erzählt, „Runksen um Runksen“ abzusäbeln und zu verschlingen, bis nichts mehr übrig war. Also frage ich mich, wenn zum Wocheneinkauf mein Blick über das Bäckerschild streift, was die große Gemeinde Klipphausen so groß gemacht hat. Bäcker oder Dichter? Oder ihr Bürgermeister? Und es hat den Anschein, als ob das Dichten, seit es diese Großbäckerei gibt, wenigstens in Klipphausen keine „brotlose Kunst“ mehr ist.


Siebenter Satz - „mit meinesgleichen“

Dem Thüringer Literaturrat, als Spiritus Rector, ist es zu danken, daß wir jetzt, vielleicht nicht unbedingt mit dem Beutel auf dem Rücken und der Klampfe in der Hand, aber von Gedicht zu Gedicht wandern können. Dank gebührt der Gemeinde Klipphausen und auch dem S. Fischer Verlag. Ganz und gar gegenwärtige Lyrik wurde aus Dichters Kemenate hinaus ins Freie gestellt zur Feier jener Landschaft, die Gegenstand der Verse ist. Alle, die „die erde bei Meißen“ auf Schusters Rappen erkunden, können fortan zu Lesern und Leser zu Wanderern werden. Mögen sie, wie es bei Wulf Kirsten heißt, „im weichbild meiner dörfer … mit meinesgleichen/ein herz und eine seele“ sein. Lieber Wulf, ich gratuliere Dir zu dieser FlurgängerEhrung und zu Deinem Geburtstag. Komm, laß uns wandern gehen!