Der Beat-Guru
Zwei Bücher von Allen Ginsberg
Obwohl „holy Allen“ erst 2026 hundert Jahre alt werden würde, wird buchtechnisch schon mal für das Ereignis Anlauf genommen. Zwei Bände erinnern an den Guru der „Beat Generation“ Allen Ginsberg (1926-1997). Herausgeber Michael Kellner, 1953 in Kassel geboren, hat sich als Verleger und Übersetzer der US-amerikanischen Beat-Szene einen Namen gemacht, neben Autoren wie Burroughs, Diane DiPrima, Kerouac, jetzt also Prosa und Lyrik von Ginsberg.
Der Titel „Prosa“ führt in die Irre, denn erzählende ist es nicht, vielmehr handelt es sich um sechs Essays, sechs Tagebuchauszüge, zwei Interviews und neun Briefe. Inhaltliches und zeitliches Spektrum sind zwar weit gesteckt, aber die späten Jahre der 1980er und 1990er fehlen fast vollständig, mit Ausnahme eines Versuchs der Begriffsdefinition „Beat Generation“ von 1981 sowie „Meditation und Poetik“ von 1987. Wenn Ginsberg über sein poetologisches Hinterland schreibt, kann es schnell kopflastig werden. Unterhaltsam, wenngleich auch Geschmacksache, ist die hinlängliche bekannte, drastische Wortwahl, deren sich Ginsberg, teilweise seine Homosexualität betonend, in Interviews bediente. „Wir alle reden miteinander … und wir reden darüber … wann wir uns im Hotel Ambassador in Prag einen Besenstil in den Arsch geschoben haben – jeder spricht mit Freunden über so etwas“. Nein, darüber spricht nicht jeder, das ist auch nicht jedermanns Sache, aber wie der Autor letztendlich die Kurve nimmt, um mit solch gearteter Drastik für die Aufhebung von Diskrepanz und Distanz zwischen lyrischem Sprechen und Alltagssprache zu plädieren, das ist dann wieder gar nicht lächerlich, vielmehr beachtlich. Oft mißverstanden, muß es Ginsberg ein großes Bedürfnis gewesen sein, sich zu erklären, denn nach einfachen Fragen kommt er schnell ins Parlieren, was sich im Buch über acht Seiten hinziehen kann, ohne daß der Interviewer den Gedankenstrom zu unterbrechen wagt. Von erfreulicher Lebens- und Informationslust zeugen die Briefe, deren Adressaten in Kellners Auswahl vor allem Ginsbergs Dichterkollegen sind. Unübertroffen zum Beispiel, wenn er Robert Creeley 1967 von seinem Besuch bei Ezra Pound in Venedig berichtet und mitteilt, er habe Pound, dem damals Zweiundachtzigjährigen, als Geschenk „Stg. Peppers Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles und „Blonde on Blonde“ von Dylan mitgebracht.
Der Band „Poetry“, zum Glück zweisprachig, zeigt nachhaltig, was Ginsberg eigentlich war, kein Erzähler oder Theoretiker, vielmehr ein Dichter von hohem Rang. Die Auswahl umfaßt fünfzig Jahre, zeigt beispielhaft Höhepunkte aus den Jahren 1947 bis 1997, darunter natürlich die Langgedichte, auf denen sich Ginsbergs Ruhm gründet. Mit wenigen Ausnahmen, neben dem Herausgeber noch Stefan Hyner und Jürgen Schmidt, wurden die Gedichte neu nachgedichtet. Dafür konnte ein „Who's Who“ deutschsprachiger Dichter gewonnen werden; u.a. Monika Rinck für „Kaddish“, Anke Stelling für „Who Be Kind To“, Caroline Hartge für „Wichita Vortex Sutra“, Durs Grünbein für „Kral Majales“ und Ron Winkler für „City Midnight Junk Strains“. Nicht mehr auffindbar ist Carl Weissner. Seine jahrzehntelang Maßstäbe setzende Nachdichtung von „Howl“ („Das Geheul“) wurde von Büchnerpreisträger Clemens J. Setz neu aufpoliert. Michael Kellner liefert dafür die merkwürdige Begründung, daß heute Formulierungen möglich sind, „die vor dreißig Jahren noch nicht denkbar gewesen wären“. Heißt das, auch Ginsberg würde seine Gedichte heute anders schreiben? Von enttäuschender Ignoranz zeugt, wenn der Herausgeber in seinem nachwörtlich kurzen Abriß zur deutschen Editionsgeschichte der Beat-Autoren die Stadtlichter Presse unterschlägt, jenen Verlag, der seit 2001 mit der Paperback-Reihe „Heartbeats“ in Einzelausgaben „Die Bibliothek der Beat Generation“ erscheinen läßt, darunter 2015 eine zweisprachige Ausgabe von Ginsbergs postumen Gedichtband „Tod & Ruhm“, was bei Kellner ebenfalls unerwähnt bleibt.
(Zuerst erschienen: SAX 11/2022)
„Bedeutend sein, weil ich es will“
Bernd Wagner öffnet seine Sudelbücher
Vorsicht, liebe Leser, dies ist ein sehr persönliches Buch. Wer sich mit der Literaten- und Kunstszene in Ost- und West-Berlin der 1980er Jahre wenig bis gar nicht auskennt, und solche Mitmenschen soll es tatsächlich geben, kann von diesem sechshundertseitigen, ziegelsteinartigen Buch erschlagen werden. Bernd Wagner, 1948 in Wurzen geboren, erste Bücher im Aufbau-Verlag, Mitbegründer der Untergrundzeitschrift „Mikado“, Ausreise aus DDR 1985, wurde nach der Wende mit den umfänglichen Romanen „Paradies“ (1997) und „Die Sintflut in Sachsen“ (2018) bekannt. Nachdem er 2019 Stadtschreiber zu Dresden war, erscheint sein Text „Mao und die 72 Affen“ in der Reihe „Exil“ beim Buchhaus Loschwitz. Haben wir ein Problem damit? Bernd Wagner offenbar nicht. Jetzt hat er seine Sudelbücher gesichtet, zur Publikation aufbereitet und kommentiert. Herausgekommen ist eine besondere Art von Autobiographie, die sich aus Tagebuchblättern, Traumnotaten, Erzählentwürfen, Reiseskizzen speist. Ein Volltreffer und unbedingt erwähnenswert ist die von Thomas Walther, Inhaber der Dresdner Agentur Ö-Grafik, praktizierte Typographie und Buchgestaltung, wodurch diverse Texteinheiten augenfällige Ordnungsprinzipien erfahren.
Falls jemand denkt, der Titel spielt auf die nach Treuhandabwicklung verlassenen, volkseigenen DDR-Werke an, liegt falsch. „Verlassene Werke sind wie gewisse Steine an den Meeresküsten.“ Gemeint sind die vom Autor selbst geschaffenen „Werke“, wie Bücher, Ehen, Kinder und weitverzweigte Beziehungskisten. Die Zeitreise beginnt 1976 und endet 1989. Die gewählte Zeitspanne läßt es zu, das Konvolut auch als den Verfall eines Staatswesens von Biermann-Ausbürgerung bis Mauerfall zu lesen, ist zugleich Zeugnis dafür, wie ein kluger, auf Eigen- und Selbstständigkeit bestehender Kopf außer Landes gedrängt und ihm eine Ankunft jenseits der Mauer schwer wird. Wer von den Lesern sich in Szene-Promiskuität und Insider-Häme zu verheddern droht, kann sich immer noch auf die durchweg lesbaren Reisebilder konzentrieren; Harzreise, 1980 erste Westreise nach Wien, später West-Berlin, noch später Griechenland. Auch gelingen interessante Annäherungen an verschiedene Personen; darunter die Dichter Kito Lorenc und Richard Pietraß, der Regisseur Roland Gräf, die Maler Peter Herrmann und Hans-Hendrik Grimmling sowie der Bildhauer Hans Scheib. Über Akteure vom Prenzlauer Berg oder die Älteren, wie Heiner Müller, Christa und Gerhard Wolf, werden stichelnde Abfälligkeiten verbreitet. Läßliche Fehler sind vielleicht, wenn Wagner bereits 1982 von der erst 1985/86 in der Sowjetunion gestarteten Perestroika oder von Herrnhuter Brüdergemeinde statt -gemeine schreibt. Eklatant falsch aber wird es, wenn er auf S. 521 behauptet, der Dresdner Maler Peter Herrmann „gehörte zu den wichtigsten Inspiratoren der Samisdatliteratur“, indem er „unter dem Dach des Leonardi-Museums Mappen mit Gedichten und Graphiken“ herausgegeben habe. Abgesehen davon, daß es Leonhardi-Museum heißt, ist vermutlich die Obergrabenpresse gemeint, wo zwar Herrmann mit seinen vorzüglichen Holzschnitten an Mappen beteiligt war, aber nicht als Herausgeber gewirkt hat.
Das letzte in der DDR erschienene Wagner-Buch „Reise im Kopf“, aus dem im jetzigen Werk gelegentlich zitiert wird, kann in seiner Struktur durchaus als Vorläufer gesehen werden. Nur handlicher war es und preisgünstiger sowieso. Schon 1977 hat Bernd Wagner sich geschworen, „irgendwann will ich ein 500 Seiten starkes Buch schreiben und werde es tun, und es wird bedeutend sein, weil ich es will“. Immerhin hat er es wahr gemacht.
(Zuerst erschienen: SAX 10/2022)
„Damals habe ich noch geraucht“
Aufsätze von Hans-Peter Lühr
Das muß man sich mal vorstellen: Kein Germanistikstudium, um für Germanisten ausgeklügelte Romane zu schreiben, „nur“ ein spätes Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig. Wenn überhaupt, so hat Hans-Peter Lühr das Leben studiert, wozu u.a. gehören Maschinenbau an der TU Dresden und Konstrukteur im VEB Pentacon Dresden, Intermezzo als Lektor im Mitteldeutschen Verlag Halle, schließlich 26 Jahre leitender Redakteur der „Dresdner Hefte“ und Geschäftsführer des Dresdner Geschichtsvereins. Viermal „Dresden“ in einem Satz. Bei diesem Mann verwundert das nicht. Hans-Peter Lühr ist Dresdner mit Haut und Haar. Daß das nicht ohne, mitunter auch heftiger Reibung abgeht, zeigt die vorliegende, mit zahlreichen Fotos bestückte Auswahl seiner kultur- und kunstkritischen Aufsätze, Essays, Reden, Porträts, feuilletonistischen Ausstellungskritiken, Rezensionen sowie Gratulationsadressen. Ein Mann für alle Fälle? Könnte man denken. Aber ein roter Faden zieht sich doch durch dieses Buch, denn getragen wird es von historischen Zusammenhängen, was auf den Titel verweist. In immer neuen Ansätzen werden eigene Erinnerungen aufgerufen und hinterfragt. Nicht „von oben“ wird Realität mit Lehrmeinungen vermessen, sondern gleichsam „von unten“ mit ureigenen Erfahrungen abgeglichen, heißt, es wird gern und oft „Ich“ gesagt und das weitgehend ungeschützt. Trotzdem oder gerade deshalb führt diese Subjektivität oftmals zur Möglichkeit der Verallgemeinerung und der Leser fühlt sich, auch bei Themen, die ihm fremd sind, auf verblüffende Weise ganz persönlich angesprochen.
Im ersten Teil des Buches, „Texte zur Geschichte“, geht es nicht so trocken zu, wie die Überschrift vermuten läßt, vor allem werden Umrisse von Leben und Werk verschiedener Personen deutlich, die mehr oder weniger Teil des öffentlichen Bewußtseins sind. Zumeist charakterisiert die Porträtierten ein Zustand „zwischen den Stühlen“. Allen voran Victor Klemperer mit seinen Nachkriegstagebüchern, aber auch Friedrich Bienert, Sohn von Ida und Erwin Bienert, der für seine antinazistische Haltung bekannt war, der 1874 geborene „Pädagoge und Räte-Revolutionär“ Otto Rühle oder Kunstwissenschaftler Erhard Frommhold, der als Lektor im Verlag der Kunst erstaunliche Bücher durch die Zensur brachte, auch Bohemien und Loschwitz-Forscher Matthias „Matz“ Griebel oder der philosophische Gärtner und „Anarchist vom Weinberg“ Georg Blume. Weiter geht es mit Uwe Tellkamp und seinem „Turm“, über die Lühr zum Glück keine ungetrübte Lobeshymne anstimmt. Es folgen Martin Walser und sein Dresdenbezug sowie Gerhard Wolf als einer, bei dem der Autor im übertragenen Sinne lesen lernen konnte. Eine Bemerkung im Bericht über das Elbe-Hochwasser von 2002 läßt aufhorchen. Lühr eilt nach Pillnitz, um zu helfen, Kunstgegenstände vor dem Wasser zu retten, sie in obere Etagen zu schleppen, eine Plackerei, unterbrochen nur von gelegentlichen Zigarettenpausen: „damals habe ich noch geraucht“. Gibt es ein treffenderes Beispiel für das von Lühr praktizierte lebensnahe Historienverständnis?
Der zweite Teil, „Texte zur Kunst“, findet, neben Betrachtungen über Horst Schuster, Will Grohmann, Christine Schlegel, Johannes Heisig, Ralf Kerbach und A.R.Penck, seinen Höhepunkt im so genannten „Dresdner Bilderstreit“, den Hans-Peter Lühr kritisch begleitet hat. Dabei kommen die Gedanken auch dann nach Dresden zurück, wenn es um nicht dresdnerische Orte geht. Anläßlich eines Besuchs des neuen Kunstmuseums Moritzburg/Halle wird resümiert: „Mit besonderem Neid sollte Dresden allerdings auf ein exzellentes Glöckner-Kabinett blicken – wie ja überhaupt die gelegentlich etwas selbstgefällige 'große Kunststadt' sich vor dieser Qualität in der 'Provinz' erst noch bewähren muss.“ Der letzter Beitrag, etwas aus dem Rahmen fallend und extra für das Buch geschrieben, könnte Ausblick auf Kommendes sein, eine unterhaltsam soziologische Studie eines ruheständigen Privatgelehrten über Anziehung und Abstoßung zwischen Ost und West. Abgerundet wird das Ganze durch ein kollegial freundschaftliches Geleit von Friedrich Dieckmann und die aufs Sorgfältigste durchdachte Buchgestaltung des Verlages.
(Zuerst erschienen: 04/2022)
„Aufgezogener Soldat“ und „Schwarzwälder Hüttenorakel“
Wolfgang Hegewald besichtigt das Jahr 2020
„Herz in Sicht“, 2014 erschienen, ist der bislang letzte Roman von Wolfgang Hegewald. Geraume Zeit schon beherrschen ihn „Unlustgefühle dem Roman gegenüber … sowohl für das Schreiben als auch für das Lesen“. Ironisch erklärt er, der Roman sei „inzwischen die Formel-1-Klasse des literarischen Rattenrennens um Weltmarktpokale“. Ihm stehe der Sinn nach einer „Werkstatt der Wörtlichkeit“, wie er sie bis zu seiner Emeritierung als Professor für Poetik, Rhetorik und Creative Writing an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg betrieben hat. Ihm schweben „Romanimprovisationen, Romanessays, Hybridromane“ vor. Eingelöst hat er das mit solchen Titeln wie „Lexikon des Lebens“ (2017), einer lexikalisch gebauten Autobiographie, sowie „Fälle und Fallen“ (2020), zwanzig ebenso bizarre wie surreale „Capriccios“. Um wenigstens eine Annäherung an die geschmähte Gattung zu versuchen, untertitelt Hegewald sein jüngst erschienenes Journal „Roman eines Jahres“. „Ich schreibe kein Tagebuch. Ich komponiere Aufzeichnungen. Es lebe die Differenz!“, heißt die Losung. Schon gar nicht handelt es sich um ein Corona-Tagebuch. Aber das Virus und die damit einhergehende Pandemie, dominieren den Inhalt, geben im Grunde die Richtung des Buches vor; Aberwitz und Anfälligkeit des Weltgefüges, drohender Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Todesnähe und Vergänglichkeit, Verlust von Alltäglichkeit, Unbeschwertsein und Ausgelassenheit. Eine weitere Dominante ist Hegewalds ausgewachsener Sarkasmus, vor dem er selbst nicht gefeit ist, wenn Nathan Niedlich, sein „Zweites Ich“, ihn „alter Satzbauzausel und Silbennotar“ nennt. Es spricht einiges für die Annahme, daß es besser ist, von Hegewald überhaupt nicht wahrgenommen, als von ihm durch die Mangel gedreht zu werden. Über Politiker wie Trump, Assad oder Erdoğan herzuziehen, ist vielleicht keine große Kunst. Aber es kommt auf das Wie an. Viktor Orbán wird als „schmieriger Nationalpoltergeist mit großungarischem Husarenfieber“ charakterisiert, Ulbricht und Honecker als „zwei deutsche Staatshausmeister mit diktatorischen Allüren“. Und wie sieht es mit Kollegenschelte aus? Uwe Tellkamp, „der gern als apokalyptischer Reiter hoch auf dem Weißen Hirsch an den Grenzen des Abendlandes patrouilliert“, produziert „promovierten Sprachkitsch und Metapherngewölle“. Zum Zungeschnalzen auch dies: „Bevor Tellkamps Tischvulkan nicht öffentlich ausgebrochen ist und Sätze speit, wollen wir davon nichts mehr hören, liebe Meinungsfreiheit.“ Auch nicht von schlechten Eltern, wenn „ein vor langer Zeit gründlich aufgezogener Soldat“ Ernst Jünger und „das Schwarzwälder Hüttenorakel“ Martin Heidegger meint. Neben dem Literaturbetrieb und dem zugehörigen Preiskarussell werden Alltag, Lektüre, Beobachtungen aller Art sowie Reisen nach Rom, Helgoland und Cuxhaven verhandelt. Immer wieder tauchen in vielfacher Variation der auf Wilhelm Raabes Romanfragment „Altershausen“ zurückgehende Satz auf: „So schönes Wetter, und wir immer noch dabei“ und als „Dissens für die Ewigkeit“ zwischen Autor und seiner Frau die Frage, wohin nach dem Tod: „Waldfriedhof Medingen oder Parkfriedhof Ohlsdorf“. Verbindende Klammern und Höhepunkte aber sind die zu Dutzenden zwischen die Tagesnotizen eingestreuten, so genannten „Tagessonaten“, jeweils drei Sätze, Fundstücke aus Tageszeitungen, „Zufalls- und Gelegenheitskompositionen … die manchmal als Änderungsschneiderei dem fadenscheinigen Sinn am Zeuge flickt“. Bereits auf der dritten Seite des Buches findet sich der Satz: „Kann irgendein Krimi gruseliger als die Dummheit sein?“ Es ist unbedingt empfehlenswert, zu lesen, wie lustvoll Wolfgang Hegewald dieser Frage auf allerhöchstem Denk- und Sprachniveau nachgeht.
Aktion im Innern
Neuer Roman von Jens Wonneberger
Wer mit dem Romancier Jens Wonneberger auf einer Bank zu sitzen kommt, muß gewärtig sein, unversehens als Figur in einen seiner Romane zu geraten, denn Banksitzen und -gespräche gehören zum festen Bestandteil einiger Wonneberger-Romane; erinnert sei an „Die Pflaumenallee“ (2006) und „Mission Pflaumenbaum“ (2019). In seinem jüngsten Roman fällt der Bank die Rolle eines Ruhepols und Beobachtungspunktes zu und hat ihren Auftritt bereits auf der ersten Seite: „ich hatte ihn, auf der Bank vor meinem Haus sitzend, täglich im Blick“. „Ihn“ meint Nachbar Rimböck, „ich“ den Erzähler. Es ist eine für den Autor typische Konstellation. Die Hauptfigur, gezwungen von sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen Umständen, denkt, zumeist monologisierend, über sein und anderer Leben nach. Handlung, im Sinne von „Action“, findet, wenn überhaupt, im Inneren der Protagonisten statt, was bisweilen an den frühen Peter Kurzeck oder den späten Wilhelm Genazino denken läßt. Schockartig ändern sich für den Ich-Erzähler die scheinbar festgefügten Lebensumstände, als seine Frau Katharina auf dem Nachhauseweg von einem LKW überfahren wird. Fortan kapselt er sich ab, ist nurmehr misanthropischer Beobachter dessen, was gemeinhin „Welt“ genannt wird. Seine feste Anstellung als Restaurator bei den Städtischen Kunstsammlungen kündigt er auf. Kontakt zu seinem Bruder Roland gibt es kaum noch. Kratzer, ein Schulfreund und einzig ihm verbliebener Bekannter, vergrault er, nennt es „Kollateralschaden bei meinem Rückzug“. Bleiben, neben den Erinnerungen, gelegentliche Begegnungen mit „Baltruschwilli“, einem in der Nachbarschaft wohnenden Georgier, und die eher gelangweilten Beobachtungen des bereits genannten Rimböck, der eines Morgens nicht wie gewöhnlich um acht sein Haus verläßt, plötzlich verschwunden zu sein scheint. Immer mißmutiger wird das Räsonieren. „Manchmal wünschte ich mir, mich in Rauch aufzulösen“, heißt es, „am besten unter die Erde verkriechen … an nichts denken“. Besonders nachdrücklich ist das von ihm erinnerte Freundschaftstreffen während seiner achtzehnmonatigen Armeezeit mit einem „Partnerregiment in der Nähe von Krakau“. Beim Besuch von Auschwitz sieht er sich mit seiner „grauen deutschen Uniform“ gespiegelt im Glas vor Bergen von „Koffern, Schuhen, Brillen und Haaren“ stehen und nach dem „deutschen Vernichtungslager“ einen „polnischen Großbetrieb“ besichtigen, einen Schlachthof, wo den an einem Bein aufgehängten Rindern die Köpfe abgesägt und den Gästen hernach in der Kantine Fleischbrühe und Leberwurstbrötchen gereicht werden.
Schnell wird klar, die heimliche Hauptfigur des Romans ist Katharina, über die der Leser mehr erfährt, als über den Erzähler. Gemeinsam wollten sie eine lang ersparte Weltreise antreten, damit Katharina in den Anden, auf Kuba und in Tansania den Flug der Flamingos bewundern könne, alles war geplant, „nur mit diesem verfluchten LKW hatten wir nicht gerechnet“. Bevor sie Mitarbeiterin des Kulturamtes wurde, hatte sie ernsthafte Ambitionen, Malerin zu werden, gab diesen Weg jedoch auf und hat angeblich all ihre bis dato gemalten Bilder vernichtet. Als „Ich“ ein Paket für den abwesenden Nachbar Rimböck entgegennimmt, dieser es nach einigen Tagen abholen kommt, sich als Kunstsammler outet und erwähnt, er habe Bilder einer weithin unbekannten Malerin entdeckt, vermutlich mit Künstlernamen signiert, vielleicht sogar bereits verstorben, werden Leser und Erzähler gleichermaßen vom Schatten eines Geheimnisses gestreift, das der Autor vorzüglich in der Schwebe hält. Überhaupt ist dieser Wonneberger-Roman mitunter von einer poesievollen Eindringlichkeit, wie sie heutzutage in der Literatur selten geworden ist. Zurück auf Anfang: Wer also darauf aus ist, Teil der Literaturgeschichte werden zu wollen, wenn nicht als Autor, dann wenigstens als Romanfigur, sollte die Chance beim Schopf packen, und mit Jens Wonneberger auf einer Bank zu sitzen kommen.
(Zuerst erschienen: SAX 12/2021)
Affenliebe
Neuer Roman von T. Coraghessan Boyle
T.C.Boyle hat bereits etliche Romane mit historischem Personal geschrieben; Mungo Park (Afrikareisender), John Kellogg (Cornflakeserfinder), Alfred Kinsey (Sexualforscher), Frank Lloyd Wright (Architekt), Timothy Leary (Hippie-Guru). Auch Schimpanse Sam, Hauptfigur von Boyles neuestem Roman, hat in Schimpansin Washoe ein historisches Vorbild, die Ende der 1960er von sich reden machte, weil sie die Amerikanische Gebärdensprache ASL erlernte. Sam ist in den späten 1970ern Teil eines Forschungsprogramms von Guy Schermerhorn, 32 Jahre, Professor an einer kalifornischen Uni, der den möglichen „Spracherwerb“ von Schimpansen erforscht, einer, der „stets die eigene Stimme hören musste“, als ob er fortwährend Primatologie unterrichten würde. Als seine Frau die Flucht er- und Sam eine Assistentin angreift, wird Aimee, 21jährige Studentin, die neue Hilfskraft. Was wie das Übliche beginnt, Prof. hat Verhältnis mit Studentin, gerät bei Boyle in ganz andere Bahnen. Schon an ihrem ersten Arbeitstag, springt Sam in die Arme von Aimee. Affenliebe auf den ersten Blick. Sie wird zur wichtigsten Bezugsperson des Schimpansen, gebärdet mit ihm, ißt mit ihm, kleidet ihn, schläft mit ihm in einem Bett. Aber nach drei Jahren ändert sich plötzlich alles. Forschungs- und Fördergelder fließen nicht mehr, die Uni läßt das Programm fallen, Donald Moncrief, Doktorvater von Schermerhorn, holt den Schimpansen zurück auf seine Farm in Iowa. Aimee fährt Sam hinterher, bringt Moncrief dazu, sie als Wärterin einzustellen. Sie erkennt, daß die Wissenschaft nur als Ausrede dient, „um einem Wesen in einem Käfig seinen Willen aufzuzwingen“. Während sie nicht akzeptieren will, daß Sam ein Tier ist, immerhin stimmen 98,9 % der DNA von Schimpansen mit der von Menschen überein, sollen die Moncrief-Schimpansen an ein Labor für AIDS-Forschung verkauft werden. „Er war so menschlich und sogleich auch wieder nicht, als wäre es der Zweck seiner Existenz, die menschliche Spezies zu unterwandern … Er war kein Mensch, aber auch kein Tier, sondern etwas dazwischen, etwas Unnatürliches, Deformiertes“. Kurzerhand kidnappt Aimee Sam, versteckt sich mit ihm auf einen „trailer park“, arbeitet dort weiter an seiner Vermenschlichung, läßt ihn sogar taufen, aber die Katastrophe ist vorprogrammiert.
Spielend gelingt es Boyle das Zeitgefühl der späten 1970er aufzurufen, zum Beispiel mit Songs wie „Take Me To The River“ von Talking Heads und „Roadrunner“ von The Modern Lovers, der seit zehn Jahren aus der Mode gekommenen Beatles- und der aktuellen Farrah-Fawcett-Frisur, oder wenn wenige Tupfer einen typischen 0-8-15-Italiener beschreiben, „mit flackernden Kerzen bestückte Chiantiflaschen, rote Tischtücher, klassische Musik … aus den knisternden, an Macraménetzen aufgehängten Lautsprechern“. Heikel und berührend zugleich, wenn sich der Autor in die Gefühls- und Gedankenwelt des Schimpansen hineinversetzt, und Sam scheinbar wirklich mit uns spricht, was schon der Titel imperativisch verheißt. Wie nebenbei und doch sehr eindringlich geht es um das grundsätzliche Verhältnis von Mensch zu Tier und andersherum. Ein echter Boyle, übersetzt von Dirk van Gunsteren, voller Spannung, Komik und Tempo.
(Zuerst erschienen: SAX 04/2021)
Autor als Schmerzensmann
Kurt Drawert läßt seine Dresdner Stadtschreiberzeit Revue passieren
Seit Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf, mit seinen Eltern 1967 nach Dresden gekommen war, wo er siebzehn seiner jungen Jahre verbrachte, läßt ihn diese Stadt nicht mehr los. Folgerichtig bewarb sich der Autor, der seit 1996 in Darmstadt lebt, für das Amt des Dresdner Stadtschreibers, das er 2018 als „zweite Zeit“ in Dresden bekam. Das dazugehörige Buch ist im weitesten Sinne eine Fortsetzung von „Spiegelland“, jenem „deutschen Monolog“, mit dem Drawert 1992 Furore machte. Damals wie heute sucht und hinterfragt er gesellschaftspolitische, vor allem aber familiäre Zusammenhänge, die ihn in diverse Katastrophen stürzten. Sein Programm: „Hier möchte ich die Gründe finden, warum es diesen Hass gegeben hat und diesen Ekel vor einem Land“. Dieses Unternehmen droht infolge allumfassender, „subalterne(r) Wehleidigkeit“, wie es Drawert nennt, zu scheitern, wenn der Autor nicht zugleich eine Operation am offenen Herzen praktizieren würde. Er reißt sich die Brust auf und der Leser kann es schlagen sehen. Geschickt werden erste und zweite Dresdenzeit miteinander verschränkt. Dreh- und Angelpunkt damals wie heute ist ein Satz, mit dem der Vater, ein hochrangiger Kriminalbeamter, den widerspenstigen Sohn nahezu vernichtet: „Du bist ein verkommenes Subjekt!“ Der Sohn revoltiert, kaum mündig, heiratet er und legt den Namen des Vaters ab. Fortan wird jede Handlung, jede Erziehungsmaßnahme des Vaters dem Staat DDR angelastet, andersherum jedwede Staatsdoktrin zwanghaft auf den Vater projiziert. Wie sehr der Autor von seiner Frühreife überzeugt ist, zeigt, wenn er behauptet, „Prag '68“ wäre die „Initiation“ gewesen, die ihn „zum Lesen, zum Nachdenken, zum Widersprechen“ gebracht habe. Du liebe Güte, da war der Junge gerade mal 12 Jahre alt! Mehrmals wird betont, daß dieser autobiografische Großessay ein Roman, also Fiktion sei, und der da „ich“ sagt, „zugleich nicht er selbst ist, sondern eine Figur“. Was für eine Attitüde! Immer noch leben seine Mutter und Bruder André in der Stadt. Hier sind die Gräber von Vater und Bruder Ludwig. Hier leben Jugendfreunde und Liebschaften. Sie alle werden auch unter ihren Namen auf- oder vorgeführt. Und Drawert ist der Schmerzensmann, der zeitlebens einen titanischen Kampf mit allem und jedem, aber auch mit der Tücke des Objekts ausficht; das Stadtschreiberwohnhaus stinkt nach Klo, Störgeräusche hindern am Schreiben, der Parkplatz wird in seiner Abwesenheit weggebaggert, das Auto mit dem Darmstädter Kennzeichen wird mit Knöllchen bestückt, Dresdner Pkw dagegen nicht, zu guter Letzt rutscht er auf Glatteis aus, stürzt und muß sich einer Schulteroperation unterziehen. Einerseits das ungeliebte Kind, andererseits der kluge Kopf, der Pegida und andere Dresdner Merkwürdigkeiten zu erklären versucht oder einen kafkaesken Traum über eine „Schriftaufsichtsbehörde“ zum stilistischen Höhepunkt des Buches werden läßt. Auf der einen Seite Selbstzitate, seitenweise aus „Spiegelland“ und zwei seiner SZ-Kolumnen von 2018, auf der anderen hinterfragt er sich selbstkritisch: „Bin ich verwöhnt?“ Plötzlich wird die Mutter zu seinem Korrektiv, wenn sie ihm ins Gewissen spricht: „Du musst härter mit dir selbst werden … und nicht so viel klagen“. Zum Schluß schildert Drawert den letzten Besuch beim sterbenden Vater und wird von der plötzlichen Erkenntnis überrascht, daß er mit diesem schwachen alten Mann „ein halbes Jahrhundert gekämpft“ hat. „Was für ein Unsinn, dachte ich, was für eine grandiose Verkennung der Lage.“ Das denkt der Leser dann auch.
(Zuerst erschienen: SAX 12/2020)
„Arsch-du-hoch“
Es ist nicht schicklich, Rezensionen mit einer Frage zu beginnen, und dann auch noch mit dieser: Wer kennt B. K. Tragelehn? Aber es gilt, der Wahrheit ins Auge zu blicken, denn Wissenslücken lauern überall. Zum Glück können sie geschlossen werden, indem man liest, was selbst in gut sortierten Buchhandlungen kaum zu finden sein dürfte. Zum Beispiel SIGNUM oder Bücher aus der Reihe „Recherchen“, die im Verlag Theater der Zeit erscheinen. Bernhard Klaus Tragelehn, Regisseur und Schriftsteller, wurde 1936 in Dresden geboren. Auf die fragende Feststellung eines Interviewers, „Du bist geborener Dresdner?“, stöhnt Tragelehn als Antwort: „O Gott.“ Das charakterisiert das Verhältnis zu seiner Geburtsstadt hinreichend, die Residenzstadt, in der er mit zweijähriger Unterbrechung, weil seine Eltern im Februar 1945 zu den Ausgebombten gehörten, bis 1955 lebt. Später dichtet Tragelehn: „Biedenkopfsteinplaster, darauf die Dienerschaft wandelt/Ewige Residenz! Dresden, sei mir gegrüßt.“ Als das Berliner Ensemble mit „Mutter Courage“ am Dresdner „Großen Haus“ gastiert, wird der gerade mal 19jährige „auf der Stelle Brechtianer“, wie er sagt und ergänzt launig, daß es ihm gelang, sich „von Brecht aus Dresden befreien zu lassen“. Tragelehn wird bis zu Brechts Tod 1956 dessen Meisterschüler und einer der wichtigsten Theater-Regisseure, erst in der DDR, dann gezwungener Maßen, weil mehrmalige Aufführungs- und Berufsverbote verhängt worden, in der „ehemaligen BRD“. Wieso „ehemalig?“, fragt der Gesprächspartner. „Die alte BRD gibt es genausowenig noch wie die DDR. Im Westen haben sie nur länger gebraucht, um das mitzukriegen“, antwortet Tragelehn.
All das kann jetzt nachgelesen werden in „Aufsätze und Reden/Gespräche und Gedichte“, einem „Lesebuch“, herausgegeben von Gerhard Ahrens, der in seinem Editorial den für heutige Verhältnisse ungewöhnlichen Titel Albrecht Dürer zuweist und betont, daß dies der zweite Band ist, dem „ein dritter schon droht“. Die Leser erwartet eine abwechslungsreiche Lektüre, wobei einige Brecht-Kenntnisse als Voraussetzung möglich, aber nicht zwingend erforderlich sind. Dreh- und Angelpunkt zahlreicher Texte über verschiedene Inszenierungsarbeiten, sind Tragelehns Erfahrungen mit „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ von Heiner Müller (1929-1995), mit dem ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verbunden hat. Schon das erste Müller-Stück, „Die Korrektur“, dieses noch zusammen mit Inge Müller geschrieben, wurde nach einer Voraufführung 1958 im Berliner Maxim Gorki Theater abgesetzt, das Manuskript konfisziert. Noch dicker kam es 1961 beim Versuch, das neue Stück „Die Umsiedlerin“ auf die Bühne zu bringen. Die damit verbundenen Ereignisse gehen als „Umsiedlerin-Skandal“ in die Theatergeschichte ein. Stück und Inszenierung werden von der Partei (SED) als „konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch“ verurteilt, die Hauptakteure gemaßregelt, entlassen, in die Produktion verbannt, zwölf Jahre keine Müller-Stücke auf einer DDR-Bühne gespielt. Dreißig Jahre später können Müller und Tragelehn in einem Radio-Interview Anfang der 1990er Jahre, das hier unter dem Titel „Die Leiche im Keller“ abgeduckt ist, darüber lachen. Später lenkt Tragelehn sogar ein, indem er konstatiert: „Ich denke, man muss dem 'Unrechtsstaat' dankbar sein, dass in ihm so ein Stück geschrieben werden konnte.“ (Wobei hier eingefügt werden muß, daß Tragelehn vom Begriff „Unrechtsstaat“ gar nichts hält, warum, kann auf Seite 118 nachgelesen werden.) Damals aber, 1961, war dieser Theaterskandal für die Protagonisten existenzbedrohend, hat sowohl ihre künstlerischen Ansprüche als auch intellektuellen Positionen wesentlich geprägt und beeinflußt. Eine Art Wiedergutmachung folgte 1985. Ausgerechnet aus Dresden erhält Tragelehn, der seit 1979 an verschiedenen Theatern der „ehemaligen BRD“ arbeitet, vom damaligen Intendanten des Dresdner Staatstheaters Gerhard Wolfram eine Einladung, Müllers „Umsiedlerin“ zu inszenieren, was wider Erwarten und gegen alle Widerstände großartig gelingt. Wie Tragelehn diese Arbeit in Dresden in einem fünfzigseitigen Gespräch rekapituliert, ist einer der Höhepunkte eines an Höhepunkten reichen Buches. Dabei ruft er die Leistung nahezu jedes einzelnen Schauspielers in Erinnerung; Helga Werner, Günter Kurze, Hans Jörn Weber, Rudolf Donath, Joachim Zschocke, Peter Hölzel, Friedrich-Wilhelm Junge. Hier ist Tragelehn frei von jeder Ironie und voll des Lobes: „Das Ensemble war damals ohne jeden Zweifel eins der besten in Deutschland.“
Zu den Reflexionen über Theaterarbeiten kommen hinzu erhellende Texte zum Einigungsprozeß zwischen West- und Ost-P.E.N., über Dresden („was dem fernen Blick an Dresden auffällt, dass es ein Gefängnis war“) und jede Menge Gedichte, in denen einmal sogar aus dem Beatles-Song „Strawberry Fields Forever“ zitiert wird. In allen Texten, namentlich in den Interviews, geht es kräftig zur Sache. Scheu vor Kalauern, Wortspielen und Witzen kennt der Autor nicht, seine Urteile sind ohne Wenn und Aber gnadenlos subjektiv, wobei der Leser zumeist mehr Gehirnschmalz aufwenden muß als am Stammtisch erforderlich wäre. „Wenn einer sagt 'Po-si-tiv', sage ich 'Arsch-du-hoch'“. Auf die Frage, was ihm durch den Kopf geht, wenn er an die DDR zurückdenkt, antwortet er: „Nous avons, vouz avez, nuseweg“. Zum heutigen Theater: „Neue Stücke von Gewicht gibt es nicht.“ Über Bert Brecht und Heiner Müller: „Wie Brecht an der DDR, ist Müller am neuen Deutschland gestorben.“ Das Verhältnis der DDR zum Kommunismus: „Ich habe vergeblich vorgeschlagen, die Parteiführung mit einem Franz-Josef-Strauss-Preis für Antikommunismus auszuzeichnen.“ Wortspiel: „Politurkolik – Kulturpolitik.“ Witz: „Kennst Du Bautzen? Ein Vorort von Sibirien.“
Und dann, wenn die letzten Seiten des Buches beinahe erreicht sind, zieht Tragelehn noch ein Ass aus dem Ärmel. Was er nämlich auch kann, ist übersetzen, nachdichten. Seit Jahren veröffentlicht er in der Buchreihe „Alt Englisches Theater Neu“ des Stroemfeld-Verlages seine Übersetzungen von Shakespeare und anderen Dramatikern dieser Zeit. Kurzum. Dieses Buch ist eine Fundgrube!
(Zuerst erschienen: SIGNUM, Sommer 2020, 21. Jahrgang, Heft 2)
Der assimilierte Sachse
Zwei Gedichtbände von Uwe Kolbe
Man mache einen Franken zum sächsischen Stiftungsdirektor, hole einen Preußen herzu und schon punktet die ansonsten provinziell sächsisch verwurzelten Autoren vorbehaltene Buchreihe „Neue Lyrik“ mit einer Art „Multikulturalismus“, der sich am liebsten selbst auf die Schulter klopft. So geschehen mit Uwe Kolbe; 2017 Dresdner Stadtschreiber, der Liebe wegen im Tal der Unterbringung hängen geblieben, schon zwei Jahre später mit Band 17 in die „Sachsen-Reihe“ integriert. Das macht ihm so schnell keiner nach. Ein geborener Preuße als Trojanisches Pferd in Dresden? Kolbe als Neu-Dresdner und assimilierter Sachse? Unsinn! Heißen wir uns nicht gern grenzenlos, wenn nicht gerade Corona einengt? Und Kolbe ist immer ein Wanderer gewesen. Jetzt also „Die sichtbaren Dinge“, unterteilt in vier Kapitel zu je 12 Stanzen. Eine Stanze besteht aus acht Versen, so genannte „jambische Fünfheber“, eigentlich gereimt, worauf Kolbe bis auf eine Ausnahme verzichtet. Aber interessiert das den SAX-Leser eigentlich? Bei 48 Gedichten zu je 8 Versen kommt das Buch auf insgesamt 384 Verse, so daß bei einem Buchpreis von 18,80 € für einen Vers 5 Cent zu berappen sind. Gehört das in eine Rezension? Der Sachse Kuhlbrodt, immerhin waschecht, zitiert in seinem Herausgeber-Nachwort die Kolbe-Stanze „Der Zaunkönig“ als etwas ganz Großes. Gemessen am Zaunkönig-Lied „Jenny Wren“ von Paul McCartney ist es eher etwas Kleines. Diese Kleinteiligkeit wird von Uwe Kolbe zum Prinzip erhoben; belauschte Natur, Partnerschaft, Jahreszeiten, Sonnenwende. Zum Höhepunkt wird die Stanze „Das Kind“, die mit angedeuteten Reimen aufwartet: „Bin wieder Kind geworden mit den Jahren,/hab keinen Anteil an der großen Welt,/hocke in einem abgelegenen Garten/und staune, dass der Regen fällt.“
Im Band aus Kolbes Stammverlag spielt das Sachsen-Gemache keine Rolle mehr. Wohltuend. Zum großen Dresden-Gedicht kommt es (noch) nicht, stattdessen „Sonntagmorgen, Meißen“, wo sich „riesige Schnecken trollten .../hinauf zu den sanften Weinbergen“. Auch darf die Elbe (vorerst) nur Komparse sein beim großen Auftritt „Der Rhein“: „Noch schwarze Flotte auf dem Mittellauf,/anders als Elbe und Oder, die Fahnen/von Basel bis Rotterdam“. Hier zeigt sich der im Tal gestrandete Dichter als Weltenwanderer. „Der Wanderer geht ohne Furcht,/das Gehen hält ihn auf Erden“. Es gibt andeutungsweise und echte Reime, Sonette und Goethe-Anleihen. Franz Fühmann, Kolbes Mentor zu DDR-Zeiten des vorigen Jahrhunderts, zierte aus Enttäuschung über das Staatswesen seinen Briefkopf mit dem Goethe-Wort: „Übers Niederträchtige/Niemand sich beklage;/Denn es ist das Mächtige,/Was man dir auch sage.“ Auch das übrigens ein Wanderer-Gedicht. Bei Kolbe klingt das so: „Übers uralt Heilige/hört man wenig sagen,/denn es wirkt das Seinige/ohne Grund und Fragen.“ Ironische Brechungen dicht an Binsenweisheiten, das ist der Kolbe, wie ihn seine Leser am ehesten kennen, wenn auch in altersmilder Form. Hinzu kommt, in Fortführung seiner gebündelten „Psalmen“ von 2017, eine auffallende Nutzung theologischen Vokabulars und die litaneiartige Verwendung von Wortwiederholungen am Ende aufeinanderfolgender Verse als lyrische Spielart. Schließlich gelangt der Dichter doch wieder nach Sachsen, nämlich zu Karl May, wenn es in „Bilder vom Orient“ heißt: „Auf dem Schulhof einer, der alle Namen/von Hadschi Halef Omar kannte.“ Erklärt wird nichts. Wer oder was Melmoth, Brook oder Laputa sind, muß der Leser selbst herausfinden. Für Notizen läßt der Verlag fünf Seiten frei und verheimlicht das Jahr der Veröffentlichung.
(Zuerst erschienen: SAX 07+08/2020)
Das Dravänopolabische
Neue Gedichte von Róža Domašcyna
Seit ihrem Debüt in deutscher Sprache, „Zaungucker“ 1991, ist sie sich und ihrer Poetik treu geblieben. Das will etwas heißen, denn Heimatverbundenheit steht heutzutage zumeist unter Generalverdacht. Wobei der Heimatbegriff Róža Domašcynas, 1951 in Zerna bei Kamenz geboren und in Bautzen lebend, in keiner Weise mit sächsisch-sorbischer Tümelei durchdrungen ist. Davor schützt ihre „Zaunguckerei“, die sie hinaus in die Welt führt. Ihre wirkliche Heimat findet sie, wie kann es anders sein bei einer gestandenen Dichterin, in der Sprache. Prompt nennt sie das erste Kapitel ihres neuen Buches „kernworte“. Von Anbeginn an und ein für alle Mal wird klargestellt: „hab die preußische ordnung fallen lassen/fremdbesatz zugelassen die kleidung/ gewechselt“. Noch einmal vergewissert sich Domašcyna in Versen der eigenen Biographie; Studium der Ingenieurökonomie des Bergbaus, Materialwirtschaftlerin in Knappenrode, Studium am Leipziger Literaturinstitut. Dort begann sie, „jedes wort … bis auf die kerne“ abzunagen, wie sie schreibt, „bin aus unseren dörfern gekommen/die sprache habe ich mitgenommen“. Bis auf den Grund wird den Wörtern nachgelauscht. Einfach war der Weg bis heute nicht. „sie haben über die sprache gelacht/sie haben gesagt: lass sie im halse stecken“. An anderer Stelle konstatiert sie: „in welcher sprache sollte ich schreiben/der natur nach in meiner“. Der Leser begegnet der gewohnt sanften, aber auch einer sanft radikalisierten Lyrikerin. Wer denkt, jetzt wird es vielleicht doch ein bißchen seriell, sieht die Dichterin in eine überraschende Richtung abbiegen, zum Beispiel in das Dravänopolabische, was die Sprache der Westslawen meint: „Johß tech tiebe rado meht“. Nie fahrlässig aber lässig läßt Róža Domašcyna die Wörter zwischen dem Deutschen und verschiedenen slawischen Sprachen changieren, so daß nicht in jedem Fall gesagt werden kann, ob das Wort alt oder neu oder gar erfunden ist, „mundrohre“ etwa, und „feenkrebse“. Wie selbstverständlich holt sie Begriffe aus Alltag und Technik, Flora und Fauna ins Gedicht, ruft die verstorbene Mutter ebenso innig an wie den väterlichen Freund Kito Lorenc und die wegen Braunkohlegewinnung abgebaggerten Lausitzer Dörfer. All das kulminiert zum Schluß in dem achtteiligen Gedicht „Im vorstau, abgelassen“, ein Klagegesang, der an Deutlichkeit, auch politischer, nichts missen läßt, wenn vergessene dörfliche Gerätschaften eingeschmolzen und Kanonen daraus gegossen werden. Im Freistaat fällt der Groschen langsam, was „seine“ Dichterinnen und Dichter betrifft. Als Róža Domašcyna im vorigen Jahr den Sächsischen Literaturpreis erhielt, war sie 67. Der 2016 im „poetenladen“ erschienene Domašcyna-Band „Die dörfer unter wasser sind in deinem kopf beredt“ zieht vier Jahre später ein nächstes Buch nach sich. Der Verlag wäre gut beraten, sich diese Autorin, die seit über zwei Jahrzehnten durch diverse Häuser tingelt, „warm“ zu halten und Werkpflege zu betreiben.
(Zuerst erschienen: SAX 06/2020)
Ein Klavier zerhacken
Der Leipziger Lyriker und Erzähler Thomas Böhme vom Jahrgang 1955 ist unermüdlich. Allein im ausgehenden Jahrzehnt sind acht Publikationen verzeichnet. Darunter finden sich der Roman „Der Schnakenhascher“, die Gedichtbände „Heikles Handwerk“ und „Abdruck im Niemandswo“ sowie die „Calwer Sinclairiaden“, ein feiner Text über Erfahrungen und Erlebnisse des Hermann Hesse-Stipendiaten, der Böhme 2014 war. Kaum hat er die 60 überschritten, schielt er nicht nach der „Regelaltersgrenze“, sondern legt noch einmal richtig los.
In seinem jüngsten Gedichtband zeigt Thomas Böhme ebenso nachhaltig wie beeindruckend, daß er sich längst aus dem Dunstkreis US-amerikanischer Beatniks und dem Post-George-Kreis gelöst und das eigene lyrische Sprechen bis zu einer selten gewordenen Könnerschaft ausgeformt hat. In den zumeist zyklisch angeordneten Gedichten überwiegen lakonische Alltagsbeobachtung und nüchtern schöne Landschaftsbeschreibung, modische Fingerübungen oder Mätzchen à la Knallpoeten finden nicht statt. Was dem Band seinen Titel gibt, ist gut versteckt. In dem anekdotischen Gedicht „Ein Spaßvogel“ auf Seite 67 behauptet einer wie nebenbei, es gehe ihm „wie dem Klavierstimmer auf der Titanic“. Das kann als Allegorie auf den Dichter im allgemeinen und auf Thomas Böhme im speziellen gelesen werden. Wie die Fertigkeit des Klavierstimmers erst gebraucht wird, wenn Feuchtigkeit in das Instrument eintritt, besinnt man sich des Dichters nur, wenn Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit in die Sprache einsickern, Sprache und Dichtung dem Untergang geweiht sind. Nicht von ungefähr wird das Buch mit einem zehnteiligen Zyklus eröffnet, den Böhme „Am Rand des Zerfalls“ nennt. Es heißt dort, „die Verkieselung unseres Fleisches schreitet voran … manche faulen zuerst um den Stiel, manche von innen … in rollenden Köpfen wechselt die Perspektive recht häufig“. Das wird nüchtern konstatiert, keine Larmoyanz schleicht sich ein. Dem folgt der Zyklus „Gotland-September“. Jeden Tag entstehen ein oder zwei Gedichte. Hier zeigt sich der Dichter als nachdenklicher Schwärmer, warum auch nicht, wenn Landschaft und gesellschaftliche Gegebenheiten der schwedischen Ostseeinsel so viel anders sind als diejenigen der Leipziger Tieflandsbucht. Er nennt Gotland „Eiland der glücklichen Kühe“, wo er endlich den „Blauen Natternkopf“ bestimmen kann und „Schlangen unter jedem Preiselbeerpolster flüstern“ hört. Die Mitte des Buches bilden Einzelgedichte, die von „Augustkoller“, einem „Gespräch mit der Schildkröte“, von Bruckner, Bach Reger, Nietzsche und sogar von den Beatles erzählen. Wenn der Leser schon denkt, jetzt geht dem Dichter womöglich die Luft aus, folgt mit „Lebensregeln eines Flaneurs“ ein weiterer Höhepunkt. Jede dieser neun „Regeln“ ein Kleinod. Was im pathetischen Sumpf versinken könnte, erlangt federnde Leichtigkeit, die nicht frei von ironischen Anspielungen ist. „Den Flaneur als Spaziergänger zu bezeichnen,/hieße, ihn zum Wiederkäuer zu degradieren.“ Und wenn von der „Passage“ die Rede ist, „die man aus Zeitgründen ausläßt“, wird der Gedanke zwangsläufig auf das „Passagen-Werk“ des Flaneurs Walter Benjamin gelenkt. Schlußendlich mündet das Buch in die zwei Zyklen „Messerspitzen“ und „Zeit-Lupen“. Erstere ist eine Sammlung von zumeist vierzeilig zugespitzten Sinngedichten. Letztere sind dreißig aphoristisch angehauchte Prosagedichte, die mit wenigen Zeilen versuchen, Zeit und Zeitgeist habhaft zu werden und bilden eine gelungen Überleitung zu Thomas Böhmes nächstem Streich, der als kleiner Geniestreich angesehen werden kann.
Zu Puppentheater und Daumenkino erfindet Thomas Böhme das „Puppenkino“ hinzu, was er sich patentieren lassen sollte. Im Untertitel heißt es: „Kalendergeschichten für 365 und einen Tag“. Ein ganz und gar ungewöhnliches Unternehmen. Jedem Tag der zwölf Monate ist ein Text gewidmet. Weil der Autor sich für ein Schaltjahr entschieden hat, gibt es eine Geschichte obendrauf. Schon die den Monaten zugeordneten Kapitelüberschriften haben es in sich. So steht der Februar zum Beispiel für einen Monat, „in dem man gern mal ein Klavier zerhackt“. Demnach ist der Juli ein Monat, „der mit Planeten kegelt oder vom Regen erregt wird“. Und der Dezember läßt mit weißem Bart „die lieben Kleinen alt aussehen“. Natürlich gibt es auch eine Titelgeschichte, die dem 25. April zugeschrieben ist. „Einmal in der Woche ist im Gemeindesaal Puppenkino. Die Puppen machen sich extra fein, polieren ihre Köpfe und ziehen bunte Kittelchen an. Auf der Leinwand balgen sich Kinder, bewerfen sich mit Melonen oder reißen einander Arme und Köpfe ab. Sie wirken fast so lebendig wie die Puppen im Saal“. Die Pointe wird nicht verraten. Das vielleicht Ungewöhnlichste an diesem Buch ist die Vielfalt der Textarten, Varianten der Erzählperspektiven und ein überbordender Einfallsreichtum, womit Böhme hier brilliert. Es gibt Fabeln, Märchen, Anekdoten und Legenden, Sciencefiction- Horror-, Vampir- und Western-Roman, Traum-Notiz, Kindheits-Erinnerung und autobiografischen Bericht, die Zeitungsmeldung, die unerhörte Begebenheit. Frauke Baumgärtner aus Flensburg findet in der Seifenschale ihres Bades das Lamm Gottes. Baldur Hufnagel gilt als Verfasser des umstrittenen Buches „Drachen als treue Hausgenossen des Menschen“. Der zehnjährige Bruno Löwenmaul bewirft Passanten mit Kastanien. Onkel Kurt verspricht Sven, ihm das Lichtangeln beizubringen. Auch geistern etliche Autoren durch die Kalendergeschichten, in denen unschwer Böhmes Vorlieben zu erkennen sind. Heine, Stifter und Storm. Sudermann, Sternheim und Hilbig, Hašek, Simenon und Pessoa. Duras, Bowles und Hemingway. Es ist eine Lust, Thomas Böhme dorthin zu folgen, wo die Möglichkeiten unserer Sprache voll ausgereizt werden. Mit scheinbar lockerer Hand ist der Autor auf der Höhe seines Könnens angelangt.
Über die zwei Bücher kann nicht geschrieben werden, ohne ihre Gestaltung würdigend zu erwähnen. Die gediegene Jenaer „Edition Ornament“ mit ihrer schwarzen Klappenbroschur, bestückt mit weißem Titeletikett und Holzschnitten von Felix M. Furtwängler, ist mittlerweile bei Band 21 angelangt und darf, dank ihrer gestaffelten Ausstattung numerierter Exemplare mit teilweise beiliegender Künstlergrafik, als bibliophile Institution angesehen werden. Dem steht die „Edition Wörtersee“ nicht nach. Die von André Göhlich gestaltete Reihe wurde kürzlich von der Stiftung Buchkunst im Wettbewerb der schönsten deutschen Bücher prämiert.
(Zuerst erschienen: SIGNUM, Winter 2010, 21. Jahrgang, Heft 1)
„Süße Krankheit Dresden“
Durs Grünbein bündelt Aufsätze und Notate
Wenn Lyriker, die ihre Dichtung auch als Verdichtung verstehen, Bücher von sechshundert Seiten veröffentlichen, ist normalerweise Vorsicht geboten. Aber in diesem Fall darf das außer Acht gelassen werden. Dem in Dresden 1962 geborenen Durs Grünbein gelingt es spielend, seine Leser, so sie an Literatur und Dichterleben von der Antike bis zur Gegenwart interessiert sind, mit den vorliegenden Aufsätzen zu fesseln. Vorausgeschickt wird eine „Fußnote zu mir selbst“, ein Erklärungsversuch, wie der Autor, als er noch Durs „Grünschnabel“ war, zur Poesie gefunden hat: „Das Gedichteschreiben ist wohl zu allererst eine Übung in radikaler Selbsterforschung“. Diese „Übung“ kann als Zellkern der Sammlung angesehen werden, die überraschend persönlich gehalten ist. Nachdem Grünbein im Sinne des Buchtitels und seiner These: „Am Beginn der Poesie stand der Traum“, die „Traumkartei“ durchgeblättert hat, folgen einige gesellschaftskritische Texte, die einmünden in den Hauptteil des Buches, der überreich mit Literaturgeschichte und ihren Geschichten gefüllt ist. Von Ovid („Liebeskunst“), Petronius („Satyricon“) und dem berüchtigten Erotomanen Rétif de la Bretonne über Heinrich von Kleist, Goethe und Droste-Hülshoff bis hin zu George, Rilke, Jünger, Benn, Ezra Pound, T.S.Eliot, Pasolini und Inger Christensen reicht die Palette. Erstaunlich ist, daß diese Exkurse nie langweilig, nicht akademisch werden und es entsteht der Eindruck, als müsse das, was den Autor interessiert, plötzlich auch für seine Leser von Interesse sein. Darüber hinaus wird viel Auskunft über Grünbeins “Ich“ gegeben, so daß teilweise von einer essayistischen Autobiographie gesprochen werden kann. Unter anderem ist zu erfahren, daß der Autor Schlafwandler war, Landkarten liebte, sich als „Kind des Kalten Krieges“ und „Zufallsgast auf dieser Erde“ sieht, als Thälmann-Pionier Erich Honecker begegnet und im Besitz eines „Eisernen Kreuzes“ gewesen ist, nach seinem Dienst als Funker in einem NVA-Panzer zur „Panzerphobie“ neigt, daß es ihm Listen und Litaneien angetan haben, er Plattensammler und Leser verbotener Bücher war, daß er gelegentlich taucht, sich vor jeder Lesung scheut, zu anderen Schriftstellern „nur Fernbeziehungen“ pflegt, nach „Einzigartigkeit“ strebt und sich als „Europäer mit einem deutschen Paß“ betrachtet.
Unbedingt erwähnt werden müssen zwei auf Dresden bezogene Texte. Zum einen der Aufsatz „Aufbruch in die politische Kälte“, der Gründe für das „Ansteigen der Pegida-Welle“ benennt und unmißverständlich Grünbeins Position aufzeigt. Zum anderen beschreibt „Die süße Krankheit Dresden“, wie Durs Grünbein das Streitgespräch mit Uwe Tellkamp im Kulturpalast erlebt hat.
Der Vollständigkeit halber sei noch auf drei Schwachpunkte hingewiesen. Einmal ist die Rede von jungen Leuten in der Stadt und dem „Krachen ihrer Surfbretter“, was wohl Skateboards meint. Der ehemalige Berliner Grenzübergang Friedrichstraße wird fälschlicherweise „Friedrichstadt“ genannt. Schließlich heißt es über Sachsen: „Kurz sah es so aus, als könnte man endlich Freistaat werden, so wie Bayern“ und der Leser weiß, daß Sachsen seit 1990 diese Bezeichnung vor seinem Namen führt. Bei fast sechshundert Seiten ist das ein Klacks. Aber auch den hätte ein gut funktionierendes Lektorat ausmerzen können.
(Zuerst erschienen: SAX 09/2019)
Schillebolde und Laubgeräusch
Der Dichter Wulf Kirsten wird 85
Wer schon einmal entlang der Wilden Sau zur Neudeckmühle und weiter nach Klipphausen gewandert ist, weiß um die Schönheiten des linkselbischen Tals. In dieser Gegend seine Kindheit zu verbringen, dort zu wohnen, dürfte unserer heutigen Vorstellung von Romantik sehr nahe kommen. Aber so hat Wulf Kirsten vermutlich nie gedacht. Am 21. Juni 1934 im Häuslerwinkel zu Klipphausen als „armer karsthänse nachfahr“ geboren, wurde seine Kindheit vom Zweiten Weltkrieg überrollt. Hunger, Angst vor marodierenden Soldaten, erst der Rückzug der Deutschen, dann der Siegeszug der Russen, standen auf der Tagesordnung. Daß aus dem Steinmetzsohn Kirsten ein weithin bekannter „schwartenheini“ wird, war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Die Nachkriegsjahre sahen ihn als Handelskaufmannslehrling, Bauarbeiter und Buchhalter, bis er 1960 an der Leipziger Arbeiter-und-Bauern-Fakultät sein Abitur ablegte, dem sich ein Lehrerstudium anschloß. Das alles zusammen hätte wohl nicht zum Schreiben geführt, wären da nicht die Deutsche Bücherei, durch deren Bestände sich Kirsten systematisch durchlas, und eine Mitarbeit am „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“ gewesen. Damit war der Grundstein für seine Dichtung gelegt. Als es ihn 1965 nach Weimar in die neu gegründete Dependance des Berliner Aufbau-Verlages verschlägt, ist er bereits verstrickt in die Poeterei und debütiert 1968 in der legendären Reihe „Poesiealbum“, zwei Jahre später folgt mit „satzanfang“ sein erster größerer Gedichtband. Für die Sammlung „die erde bei Meißen“ wird ihm 1987 der Peter-Huchel-Preis zugesprochen. Das ist der Durchbruch, auch im „Westen“, und er geht in die Freiberuflichkeit. Weil es nie seine Sache war, Fahnen in eine lichte Zukunft zu tragen oder treugläubig mit Arbeitern und Bauern Staat zu machen, fällt es ihm nicht schwer, nach 1990 in der neuen Gesellschaft anzukommen. Gedichtbände werden flankiert von poetologischen Auskünften, topographisch historischen Essays, Lobreden auf Kollegen sowie den Kindheitserinnerungen „Die Prinzessinnen im Krautgarten“. Sein lexikalisches Wissen über vergessene Schriftstellerexistenzen, gepaart mit einer Sammelleidenschaft nicht kanonisierter Lyrik führt schließlich zu dem elfhundertseitigen Hauptwerk seiner zahlreichen Herausgaben „Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan“. Dabei bleibt immer noch Zeit zur Mentorenschaft für jüngere Poeten, Mitarbeit in diversen Akademien,Vereinen und dem Freundeskreis „Elsbeerquartett“. Zum 70. Geburtstag erschien mit „erdlebenbilder“ eine prächtige Sammlung sämtlicher bis dato publizierter Gedichte, ein Ereignis, das nur wenigen lebenden Dichtern zuteil wird. Wer glaubte, diese Edition sei der Schlußstrich gewesen, sah sich getäuscht. Unbeirrt produziert Wulf Kirsten weiter. Gerade noch legte er die großformatige Sammlung älterer Gedichte „flurgänger“ im bibliophilen Verlag Thomas Reche vor, da erscheinen rechtzeitig zum 85. Geburtstag einundfünfzig neue Gedichte. Der Buchtitel „erdanziehung“ ist programmatisch, kann gelesen werden als das Geerdetsein im hier und heute, die Erdverbundenheit, erinnert aber auch daran, daß wir einst wieder zu Erde werden sollen. Die Zutaten Kirstenscher Dichtkunst sind alle da; Landschafts- und Menschenbilder, Kindheits- und Reiseerinnerung, Werk- und Lebensbilanz gespickt mit Wörtern, die im Duden nicht auffindbar sind. Zikadengesang, Laubgeräusch, Mauerseglerflug, Schillebolde, Grundfaden und Windhose werden ebenso sprachgenau fixiert, wie Zeitgenossen, die „unterwegs nach Absurdistan“ sind, verspottet werden. Selbst dem Dresdner Café Toscana wird als „versorgungsbereich für eierscheckenliebhaber“ ein Denkmal gesetzt. Wer Gedichte von unmittelbarer Direktheit und großer sprachlicher Schönheit sucht, denen unterbreitet Wulf Kirsten zu seinem Geburtstag ein Geschenk, wofür die Leser ihm dankbar gratulieren können.
(Zuerst erschienen: Sächsische Zeitung 21.06.2019)
Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren, wohnt in Zürich und will die Dinge ganz lassen. Vor allem läßt er die Dinge an ihrem Platz, hievt sie nicht in einen verkünstelten Dichterhimmel, riegelt sein Sprechen nicht ab, sagt einfach, was er zu sagen hat. Wie im sechsteiligen Titelgedicht, das zu den Höhepunkten gezählt werden darf: "An der Grenze zum Schlaf/begann es zu regnen./Ich strich über dein Haar/das feucht war und kühl./Jeder Tropfen/fiel senkrecht durchs Haus./Ich schlief ein/im schmucklosen Innern des Regens." Selbst das Schwierige, nämlich seinen eigenen Kindern ein paar Verse zu widmen, meistert er mit Leichtigkeit: "Es gewittert und ich trage dich/von Zimmer zu Zimmer./So viel Gewalt/für deine blasse Stirn./In den Türritzen singt der Wind./Ich singe, wie um der Stille willen/wie um Platz zu schaffen/zwischen den Dingen". Von geradezu schmerzlicher Einfachheit und Schönheit ist sein Gedicht über das Zürcher Grabmal von James Joyce, wenn es heißt: "Alle Nächte/wird ihm die Brille blind/vom Tau./So sieht er/die Amsel nicht/ihren Schatten über die Gräber tragen/.../Bald macht sich die Amsel davon./Hinter ihr rastet die Luft ein/wie eine Tür." Es ist erst Thilo Krauses zweites Buch. Aber er spricht darin wie ein lange schon gewachsener Dichter. Mag sein, Krauses Gedichte muten seinen dichtenden Generationsgefährten etwas konventionell an, aber "monolithisch" gemäß Beyer sind sie niemals.
(Erschienen in: "SIGNUM - Blätter für Literatur und Kritik", 17. Jahrgang, Heft 1, Winter 2016)
"Ich wollte den Suhrkamp des Ostens"
Zwar wird schon auf Seite 35 dieses autobiographischen Berichts der Aufbau-Verlag das erste mal erwähnt, aber erst auf Seite 184 kommt der Autor als Verleger in der Berliner Französischen Str. 32 an. Die Rede ist von Elmar Faber, Aufbau-Chef von 1983 bis 1991, der jetzt die Erinnerungen an sein "Verlegerleben" vorlegt. 1934 in Deesbach/Thüringen geboren, dort selbst Dorfschulbesuch, ab Klasse Fünf Wechsel an die Friedrich-Fröbel-Oberschule in Oberweißbach, Ausbildung zum Postbeamten in Saalfeld, Abitur an der Arbeiter- und-Bauern-Fakultät Jena, Germanistikstudium an der Universität Leipzig, wo er noch Vorlesungen im berühmten Hörsaal 40 bei Ernst Bloch und Hans Mayer hört, bevor beide ihrer Lehrtätigkeit enthoben werden und die DDR verlassen. Detailgenau und mit viel Zeitkolorit versehen, beschreibt Elmar Faber, wie er nach 1945 die Liedzeile "Du hast ja ein Ziel vor den Augen" beim Wort nahm und einen Bildungsweg einschlug, der ihn so zu sagen von unten, aus einem "Glasbläser- und Waldarbeiterdorf", hinauf in die intellektuelle DDR-Elite katapultierte. Über die Stufen Redakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift, Verlagsassistent am Bibliographischen Institut und Programmchef beim Export- und Devisenverlag EDITION LEIPZIG ging es aus der Messemetropole in die Hauptstadt, um als Verlagsleiter von Aufbau ganz große Geschichte zu schreiben. "Aufbau war kein Königreich. Es war eine Weltrepublik ... mich reizte ein solcher Koloß". 200 Mitarbeiter, 350 Bücher jährlich, 30 Millionen Netto-Jahresumsatz. Der Slogan ist schnell gefunden: An jedem Tag ein neues Buch. Und immer wieder die Kämpfe damaliger Zeit: Papierkontingente, gestalterische Qualität, Plusauflagen, Lizenzgeschäfte, Zensur. Autoren wie Uwe Johnson, Peter Huchel, Wolfgang Hilbig oder Günter Grass erscheinen zu spät oder nie. Christa Wolfs "Kassandra"-Vorlesung wird beschnitten, Christoph Heins "Horns Ende" am Zensor vorbei geschmuggelt, Erwin Strittmatters "Laden"-Trilogie zum Auflagenbestseller, eine Anthologie hineingeborener Autoren verhindert, statt ihrer für den subkulturellen Prenzlauer Berg "Außer der Reihe" erfunden. "Junge Autoren mit sonderbaren Manieren und eigenwilligen Bekleidungen bestürmten mich". Als Fabers Lieblingswörter fallen "nobel" und "Noblesse" auf, andererseits ist er sich nicht zu fein, kräftige Ausdrücke zu gebrauchen. "... aus den Latschen kippen ... die alte Scheiße der Bevormundung ... furztrockene Arbeiten ... zum Kotzen." Beeindruckend fair bleibt Faber, als er vom Verlust seines Imperiums an den Frankfurter Immobilienmakler Bernd F. Lunkewitz berichtet. Beinahe augenzwinkernd resümiert er: "Ich wollte ... den Suhrkamp des Ostens, der Aufbau war. Lunkewitz wollte eine literarische Parfümfabrik, für alle etwas, mit schnellem Erfolg und vergänglichen Duftnoten." Januar 1990 gründet Faber noch den "Aufbau Taschenbuch Verlag", im September schon seinen eigenen Verlag "Faber & Faber", die unfreiwillige Rückkehr nach Leipzig ist beschlossene Sache: "Aus dem Paradies, für das ich das Verlegerleben hielt, ließ ich mich nicht vertreiben."
Wie Elmar Faber Geschichte und Geschichten erzählt, das hat Stil, Verve, Leidenschaft und, jawohl, auch Poesie, was einer Verlegerschreibe selten eigen ist. Ob eindrückliche Erinnerungen an thüringische Heimat, letzte Kriegs- und erste Nachkriegsjahre oder sein Weg in die Welt der Bücher, immer ist da ein ganz eigener Ton, nicht frei von besitzanzeigenden Eitelkeiten ("mein Autor", "mein Verlag"), aber liebenswert eigensinnig, nicht ohne Hang zur Rechtfertigung, aber gentlemanlike bis zum Scheitel.
(Erschienen in: "SAX - Das Dresdner Stadtmagazin" 10/2014)
Neue Gedichte von Jan Wagner
Ein kleines Gedicht von nur sechs Zeilen fällt aus dem Rahmen. "der zehnte weiße friedhof/an einem jener hänge/ist ein ensemble/von bienenkästen: sammelt/den honig, fleißige tierchen,/winzige tote." Mit "Sarajewo" betitelt, erinnert es an den Balkankrieg. Ansonsten hält sich der Lyriker Jan Wagner, 1971 in Berlin geboren, zumeist politisch vornehm zurück. Das hat ihm viele Preise eingebracht, zuletzt Hölderlin-Preis, Villa-Massimo-Stipendium, Kranichsteiner Literaturpreis und Paul Scheerbart-Preis der Rowohlt-Stiftung. Nach Gedichtbänden wie "Probebohrung im Himmel" und "Australien" erscheinen seine neuen Gedichte gleich einer Zurücknahme. Der Leser gewinnt den Eindruck, als sei ein Marsmensch auf die Erde gefallen und berichtete nun seinen Mitmarsmenschen in poetisch aufgeladener Form über die irdische Fauna und Flora: Giersch, Pferd, Tümmler, Silberdistel, Blutbuche, Esel, Koala, Mücken. Oder, als fordere im Schreibkurs der Poesielehrer die Schüler auf, ein Gedicht über Laken, Servietten, einen Nagel, Tennisbälle, Zäune, Tassen und Seife zu schreiben. Jan Wagner erfüllt die Aufgaben mit Bravour. Gekonnte Fingerübungen. Aber wozu? Um Artenschutz geht es ihm nicht unbedingt, wenn es über die Kaimanjagd genüßlich heißt: "nimm jetzt/du die flinte. ziele genau" oder wenn ein Elch ausradiert wird: "der warme doppellauf wie eine schlag-/ader in meiner faust". Wagner fährt sehr nah an die Objekte seiner Begierde heran, um alten Bekannten noch etwas Überraschendes abzuringen. Am besten gelingt das, wenn damit autobiografisches Erinnern verbunden wird. Tante Mia, die sich ein Weidenkätzchen in die Nase steckt, Annas Hasenscharte, ihr "kratermund", der Sturz als Kind in den Brunnen, vergebliche Versuche des stümpernder Etüdenspielers, Schubert und Schumann auseinander zu halten, der forschende Blick in die Regentonne. Sehr stimmig ist ein Volker Braun gewidmetes Gedicht, in dem das weit verbreitete Fuchsschwanzgewächs Melde mit dem Dichter gleichsam personifiziert wird: "blüht bescheiden ... solidarisch mit dem schutt ... liebt das malade, das brüchige: ihr staat ist überall ... von jenseits des rostigen hammerkrans ruft es ... meldet beharrlich, ungehorsamst, die melde." Zum Durchatmen gibt es ein paar wenige Gedichte, die nicht in der Botanisiertrommel vorgekeimt wurden. Allen voran "die bibliotheken": "ein einziges regal/von murmelnden, von angehimmelten,/verworfenen". Merkwürdigkeiten zeigen sich in der Formgebung. Sehr oft praktiziert Wagner Worttrennungen als Zeilenbrüche, eine Silbe noch in jenem Vers, die andere im nächsten. Außer daß die Methode ab und an einen Reim erzwingt, dient sie ansonsten selbstverliebter Manieriertheit. Hinzu kommen unsaubere Reime und angedeutete Sonette, als fehle dem Autor der Mumm, seine Gedichte formbewußt zu vollenden. Ein aus schönen Haiku gebautes Gedicht, der treffliche "kentaurenblues", die auf nur zwei Reimpaaren fußenden "maulbeeren" stehen dagegen auf verlorenem Posten. Es darf eine durchwachse Lektüre konstatiert werden.
(Erschienen in "SAX - Das Dresdner Stadtmagazin" 11/2014)
Herzerfrischend junges Alterswerk
60 neue Gedichte vom „erdenbürger“ Wulf Kirsten
Nachdem Wulf Kirsten, geboren in Klipphausen bei Meißen, 50 Jahre hoch dotierte Dichtkunst betrieben hatte, wurde 2004 einem seiner Gedichtbände das allererste Mal ein Lesebändchen zuteil, es war grün und befand sich im über 400-Seiten-Buch „erdlebenbilder“, herausgebracht von dem inzwischen im Ruhestand weilenden Ammann Verlag zum 70. Geburtstag des Lyrikers. Jetzt ist Wulf Kirsten der Verlagswechsel derart gut gelungen, daß er zu seiner eigenen Überraschung und der seiner Leser ein Buch vorlegen kann mit 60 nagelneuen Gedichten und neuerlichem, dieses Mal blauem Lesebändchen. Wer diesen Versen abliest, Kirsten sei sich treu geblieben, trifft nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt einen Dichter, der sich neu erfunden hat. Einerseits ist da der gewohnte Landschafter, der unbeirrt pirscht durch Mulm, Dörnicht und „sömmerisch bewachsne gründe“, der unverdrossen stromert über „verstrauchte“ oder „abdächige wiesen“, über „staubichte schluchtwiesen“ oder „waldumfangene wiesenpläne“. Andererseits, und das ist neu, münden die Landschaftsworte, die eingesammelten, aufgehobenen Wörter öfter und kräftiger als früher in heiligen Zorn. Nicht nur wohl gesetzte Metaphern als Huldigungen der Vergänglichkeit werden dargebracht, sondern auch herzhafte Schimpfkanonaden auf zeitgenössische Unsitten abgefeuert. Beißender Spott richtet sich gegen kommunale Vandalen: „kanalräumerlehre abgebrochen wegen geistiger überanstrengung … von einer veritablen ausdrucksarmut geschlagen“ und gegen Geschichtsneurotiker: „Napolensyndrom freigestellt/minderwertigkeitskomplexe kompensiert/mit dem größenwahn von maulhelden“. Sogar die Kanzlerin bekommt ihren Vers weg: „einmalig diese verlegenheits-/geste, wie sie ihre mundwinkel/so unnachahmlich gekonnt/nach unten zu korrigieren versteht“. All das gipfelt in dem Gedicht „tirade“, das zwar E.T.A. Hoffmann und Bamberg zugeschrieben ist, aber auch den Autor selbst in wohlbekannt anderer Kleinstadt einbezieht: „nichtswürdig eingeschachtelt, marterjahre/unter hundsföttischen lakaien, abgöttisch/verachtet, hofnarr in einem schmierentheater“. Überhaupt nimmt Weimar beträchtlichen Raum ein, als „stadt im kessel“ taucht sie auf mit ihren Verwerfungen und dem geschichtsbeladenen Ettersberg, der freien Bürgern heutzutage wenig bedeutet, Hauptsache ihre „kraftfahrzeuge brettern die Blutstraße lang“. Nahezu unschlagbar ist Wulf Kirsten, wenn er sich selbstironisch porträtiert als „der junge, der ich war“ und in seine dörfliche Kindheit als doppeldeutiger „erdenbürger“ zurückkehrt: „junge, was soll bloß aus dir/mal werden? linkshänder/und zu nischde geschicke … so ein schwartenheini wie du,/mit solch einem faulpelz/kann keiner was anfangen“.
Schließlich setzt der Dichter mit einem Enkelinnengedicht nicht nur jene „Oral History“ fort, die er „zaunüberwärts“ schon oft betrieben hat, sondern zeigt damit ganz plötzlich auch eine familiäre Seite, die ein wunderbares Novum im Spektrum seiner poetischen Themen darstellt. 60 neue Gedichte, die man sich scheut „Alterswerk“ zu nennen, weil sie herzerfrischend jung wirken.
(Erschienen in: "SAX. Das Dresdner Stadtmagazin", 08/2012)