27. September 2023

Ein kleines Erinnern an diejenigen, die nicht mehr zu sehen sind, aber dennoch und immer wieder vor mir stehen.

Eberhard Göschel (1943 - 2022)


Als ich meinen Sohn noch gelegentlich auf dem Arm trug (heute nimmt er mich auf den Arm), standen wir vor dem Ausstellungsplakat von Eberhard Göschel, das in unserer Wohnung an die Wand gepinnt war. Der Handdruck war und ist mir eine Kostbarkeit, war es doch eines der ersten, wenn nicht überhaupt das erste Original, das ich mir vom Ingenieurgehalt kaufte. Auch dem Sohn schien das Bild damals zu gefallen, denn er griff lustvoll ins Blau, und zack!, war rechts oben die Himmelsecke ab. Mein Schrecken darüber ließ ein winziges Gedicht entstehen, das eigentlich unveröffentlicht bleiben wollte, jetzt aber Eberhard Göschel nachgerufen werden soll. Unsere Begegnungen in der „Obergrabenpresse“, in Fürstenau, in seinen Ateliers, aber auch die eine und andere gemeinsame künstlerische Attacke, sind mir unvergessen.


DER SOHN HOLT

ein Stück Himmel

vom Plakat

handgedruckt

1975

E.G.


Zerreiß doch

den blauen Schein hundert Mark

meinen Paß das alte Moskauer Visum

die Ausweise Kennzahlen Beiträge

das macht mich nicht ratlos


Aber dein Riß

ins 75er Blau

von E.G.

(20.05.1977)




Rechts oben der Riß (c) Foto privat


26. September 2023

Ein kleines Erinnern an diejenigen, die nicht mehr zu sehen sind, aber dennoch und immer wieder vor mir stehen.

Wulf Kirsten (1934 - 2022)

Mit Wulf Kirsten auf den Olymp

1

Die Besteigung hat eine Vorgeschichte.

In Leonberg wurde im November 2010 zum zehnten Mal der Christian-Wagner-Preis verliehen. Die Jury wollte Helga M. Novak preisen, die jedoch krankheitsbedingt nicht anreisen konnte. Vertreten wurde sie vom vorherigen Preisträger Wulf Kirsten, der sich unverkleidet und ungeschminkt der Aufgabe wacker stellte. Aus verqueerer Sicht von heute eigentlich unvorstellbar, damals aber kein Problem. Ich war luftbereift von Gerbersau herübergefahren gekommen, wo ich im Namen von Hermann Hesse stipendisierte und mich auf der Suche nach der von Wulf Kirsten in die Literaturgeschichte eingeschriebenen Wasseramsel befand. Da kam mir eine Begegnung mit dem „Laienornithologen“ gerade recht. Wir trafen uns im abendlich verdämmerten Spitalhof des Stadttheaters, neben ihm eine verschattete Person mit sooo einen Bart, der Novak-Verleger. Ich wurde als nichtgeladener Gast auf Kirstens Platz verwiesen, der den Ehrenplatz von Frau Novak inne hatte. Auf dem Reservierungszettel war „Dr. h.c. Wulf Kirsten“ vermerkt. Er mochte die vielen Vornamen nicht. „Wulf“ genügte ihm vollauf. Den Zettel habe ich noch, ohne zu wissen, warum. Die Preisverleihung ging weihevoll über die Bühne. Kirsten spielte die Rolle „Novak“ souverän, mußte aber Urkunde und Preisgeld nach symbolischer Übergabe sogleich wieder zurückgeben, so daß ihm nichts blieb, als in ihrem Namen zu danken. Am nächsten Tag war eine Matinee-Lesung der Preisträgerin im Christian-Wagner-Haus angesetzt. Immer noch war Frau Novak krankheitsbedingt verhindert. Immer noch hatte ihr Verleger sooo einen Bart. Vertretungshalber las Wulf Kirsten die Gedichte der Poetessa. Danach beendeten Kirsten und ich, in unsere ganz und gar eigenen Rollen verstrickt, den nassen Novembersonntag in Gerbersau, nahmen die Spuren von Hesse und Wasseramsel auf, bevor ich anderntags W.K. zu Frau Sofia und Paul Schneider nach Weimar brachte. Als wir auf winterlicher Thüringen-Autobahn bei Matsch und Schnee Rentwertshausen passierten, wies W.K. rechtsnüberwärts auf die im Dunst gerade noch erkennbaren Gleichberge und sagte, jeder Dichter müsse wenigstens einmal im Leben den thüringischen Olymp bestiegen haben. Gesagt, getan.


2

Die Besteigung.

Um aufzusteigen, stiegen wir Mai 2013 im „Hirsch“ zu Römhild ab. Das Grabfeld also. Um 1977 schrieb Helga M. Novak: „ich trete dem Grabfeld ins enge Herz/und bin mutlos über so traurige Gegend“. So traurig empfand ich die Gegend gar nicht. Aber ich fühlte in anderen Zeiten. Kein Sperrgebiet mehr, keine Grenze. Kirsten kannte sich aus. Was er nicht kannte, doch wissen wollte, erfuhr er in Gesprächen übern Gartenzaun. Obwohl die Kalte Sophie regierte, gingen wir den Kleinen Gleichberg bei über zwanzig Grad von der Waldhaussiedlung an. In den Rucksäcken Brote und Bücher als Wegzehrung. Die Hexenzwiebel überblühte den Basaltkegel. Knoblauchdämpfe stiegen uns in die Nase, als hätten hier keine Kelten sondern russische Muschkoten in Stellung gelegen. Ein Gipfelbuch gab es auf der Steinsburg nicht. Dafür zückte W.K. ein Heft, las daraus Gleichberg-Gedichte von Walter Werner, Harald Gerlach, Annerose Kirchner. Strophen in geschichtsträchtige Luft gesprochen, zweifelhafter Haltbarkeit überlassen. Helga M. Novak wohnte damals in Breitensee, unterfränkisches „Zonenrandgebiet“, von drei Seiten grenzumschlossen. Wulf Kirsten wies mir die Richtung. Unwirklich nah, sagte ich. Während Römhild'sche Gleichbergbesteiger sich die Augen bis 1989 womöglich gen Westen wund sahen, sah die Novak ihrerseits den ach so nahen Gleichberg fern zugleich, übersah „nicht das Messer am Hals“ beim weiten Blick zur keltischen „Fliehburg“ und sang ihr kleines Grenzlied: „wohin ist jene Stille/die mich anfangs bewog/ruhmlose Langeweile/als ich in solchen Landstrich zog//endlos staubige Grenze/die im Regenschatten liegt/zerfahren von Raupenpanzern/wie in einem längst vergeßnen Krieg“. Natürlich hatte W.K. auch jenen Brief dabei, den Hölderlin seinem Halbbruder Carl im August 1794 aus Waltershausen schrieb: „Letzten Sonntag war ich auf dem Gleichberge, der sich eine Stunde von Römhild über die weite Ebene erhebt.“ Also war längst und ein für allemal verbrieft, daß Hölderlin die „traurige Gegend“ mit seinen Füßen geadelt hatte, was den Begriff vom „thüringischen Olymp“ mehr als rechtfertigt. Abends feierten wir die olympische Besteigung im Altfränkischen Hof bei Spanferkel und Hackbraten, bestückt mit Thüringer Klößen, die in arg brauner Soße schwammen, was wir nicht kommentierten.


3

Die Besteigung hatte ein Nachspiel.

Zwei Jahre später bestiegen wir den Großen Gleichberg von Gleichamberg aus. Beim Abstieg kam uns ein Pkw entgegen, den Wulf Kirsten anhielt, um den Fahrer erbost darauf hinzuweisen, daß hier ein striktes Fahrverbot herrsche. Lachend gab sich der Fahrer als Bürgermeister von Römhild zu erkennen, der eine Inspektionsrunde drehe. Verschmitzt stellte sich W.K. als WanderDichter von Weimar und mich als TalDichter von Dresden vor. Schnell herrschte eitel Sonnenschein. Die Rede war von Harald Schnieber alias Gerlach und dem einsiedlerischen Oberförster Gundelwein aus Haina, auch vom Wirt des Hirsch-Hotels, der beim Tauchen ertrunken sein soll, und von Helga M. Novak, ihren Jahren in Breitensee mit Horst Karasek, einem Bruder von Hellmuth Karasek, und dem Buch „Das Haus an der Grenze“, das von der „traurigen Gegend“ erzählt. Bei W.K. kam immer eins zum anderen. Oft stand oder saß ich daneben und hörte nur zu. Verkapselt in Erinnerung ist das heute noch so.

(Erschienen in: "Unterwegs mit Wulf Kirsten.Eine Freundesgabe", Elsinor Verlag 2023)



Wulf Kirsten visiert 2015 vom Großen Gleichberg den Kleinen Gleichberg an (c)  Foto privat


Ein kleines Erinnern an diejenigen, die nicht mehr zu sehen sind, aber dennoch und immer wieder vor mir stehen.

Thomas Rosenlöcher (1947 - 2022)

Obwohl es von dort, wo wir viele Jahre wohnten, also von Kleinzschachwitz nach Leuben, wie auch andersherum, nur ein Katzensprung war, wurde es zwischen uns nie familiär. Private Besuche blieben eine Seltenheit. Aber wir wußten voneinander. Kennengelernt hatten wir uns 1975 in einer „Fördergruppe Schreibender Arbeiter“. Das gab es wirklich! Ein nicht langanhaltendes Unternehmen, das auf dem damals vielerorts praktizierten „Nickmechanismus“ (Rosenlöcher-Wort) beruhte. Später kreisten wir um sehr verschiedene Sonnen. Unsere Umlaufbahnen berührten sich selten. Vielleicht aber hatten wir mehr Gemeinsamkeiten, als wir uns jemals eingestehen wollten? Ja, wir wußten voneinander.

19. September 2023

Ein kleines Erinnern an diejenigen, die nicht mehr zu sehen sind, aber dennoch und immer wieder vor mir stehen.

Wolfgang Hädecke (1929 - 2022)

Wenn ein Schriftsteller-Kollege endgültig gegangen ist, zumal einer, mit dem ich mich freundschaftlich verbunden wußte, gehe ich normalerweise zum Bücherregal, weil er dort noch lebt. Als mich die Nachricht erreichte, Wolfgang Hädecke sei gegangen, war das etwas anders. Zwar vergewisserte ich mich, daß seine Bücher noch bei mir waren, nahm auch das Eine und sogar das Andere in die Hand, las hier einen Satz und einen Absatz da, aber letztlich kam das Erinnern an ihn doch auf ganz anderen Wegen zu mir. Wenige Tage nach seinem Tod sah ich einen Dokumentarfilm über Edson Arantes do Nascimento. Plötzlich wünschte ich, ich hätte die Dokumentation über Pelé mit ihm gemeinsam sehen können, jetzt da Wolfgang selbst in der „Tiefe des Raumes“ verschwunden ist, mir noch einmal von ihm in seiner unnachahmlichen Art erklären zu lassen, was ein „geschlänzter Ball“ ist. Es schmerzt, daß nun aus seiner Leidenschaft kein Sieg-, sondern ein Jenseitstor wurde.


Wolfgang Hädecke am Stammtisch, Oktober  2015, Foto privat


Ein kleines Erinnern an diejenigen, die nicht mehr zu sehen sind, aber dennoch und immer wieder vor mir stehen

Kito Lorenc (1938 - 2017)

Auf Nachfrage der Sächsischen Zeitung schrieb ich 1991 meine allererste Rezension zu dem Gedichtband "Gegen den großen Popanz" von Kito Lorenc. Im nächsten Jahrhundert gab es etliche von Angela Hampel initiierte Besuche in Wuischke. Hier ein Text zu seinem Fünfundsiebzigsten.

Sisyphus vom Czorneboh

Zwei neue Bücher zum 75. Geburtstag des sorbischen Dichters Kito Lorenc


An die zweisprachigen Ortsschilder östlich von „Schiebock“ haben sich die Sachsen gewöhnt. „Budyšin“ ist kein Fremdwort mehr. Wenn im vornehmlich protestantisch gesinnten Sachsen plötzlich an Lausitzer Feldrändern Kruzifixe stehen, kein Problem, schließlich ist anno dunnemals ein namhafter sächsischer Kurfürst aus Karrieregründen auch schon mal konvertiert. Aber daß dort eine slawische Sprache gesprochen, obersorbische Bücher geschrieben, niedersorbische Lieder gesungen werden, oder gern auch andersherum, scheint andernorts eine Randerscheinung geblieben zu sein, die gern übersehen oder auch unterschlagen wird. Einer, der seit Jahrzehnten unermüdlich dafür arbeitet, daß sorbische Sprache und Literatur im und am Leben bleibt, ist der Dichter Kito Lorenc. Man könnte ihn den Sisyphus vom Czorneboh nennen, weil er immer wieder überlieferte und eigene Sprachbrocken den Berg hinauf gewuchtet hat und dabei etliches verloren geben mußte. Leicht ist ihm die Arbeit nie gemacht worden. Anerkennung fand er spät; 2008 Ehrendoktorwürde der TU Dresden, 2009 Lessingpreis des Freistaates Sachsen, 2012 Petrarca-Preis.

Geboren am 4. März 1938 als Christoph Lorenz in Schleife bei Weißwasser, deutsch aufgewachsen, brachte er sich die sorbische „Großvatersprache“ selbst bei. Er wollte die nachgelassene Bibliothek seines obersorbischen Dichtergroßvaters Jakub Lorenc-Zalěski lesen und nutzen. Diese dürfte den literarischen Humus geliefert haben für jene großangelegten Sammlungen sorbischer Dichtung, für die Kito Lorenc auch als Nachdichter verantwortlich zeichnet: „Sorbisches Lesebuch“ 1981 und „Das Meer Die Insel Das Schiff“ 1994. „Eigentlich bin ich der Sohn meiner Großeltern.“ Ab 1952 besuchte er die sorbische Internatsschule Cottbus, studierte 1956-1961 Slawistik an der Universität Leipzig, war Mitarbeiter am „Institut für sorbische Volksforschung“ und Dramaturg am Bautzner Deutsch-Sorbischen Volkstheater. Doch seine Passion ist die Dichtung, seinen Dichternamen leitete er vom Großvaternamen ab. „Gedichte geschrieben habe ich etwa seit meinem 12. Lebensjahr ununterbrochen, zunächst deutsch, später immer mehr auch sorbisch.“ 1961 debütierte er mit dem Bändchen „Nowe časy – nowe kwasy“ („Neue Zeiten – neue Hochzeiten, Gedichte aus den Studentenjahren“).

Zweisprachigkeit wurde Kito Lorenc zum poetischen Programm, „zu einem widerspruchsvollen Dauer- und Wechselverhältnis der Anziehung und Abstoßung, von Lust und Last“. Deutlich werden diese Spannungen, wenn man Lorenc' Odyssee durch die Verlage bedenkt: Aufbau Berlin, Kinderbuchverlag, Reclam Leipzig, buch&media München, Wieser Klagenfurt. Einzige Konstante ist der Bautzener Domowina-Verlag, der nahezu alle seine sorbischsprachigen Bücher publiziert hat. Bis heute hat kein deutscher Verleger Kito Lorenc die Treue gehalten. Jetzt präsentiert die „Bibliothek Suhrkamp“ eine Auswahl seiner deutschen Gedichte, eingerichtet und mit einem freundschaftlich warmherzigen Vorwort versehen von Peter Handke. Vom frühen Beginn mit den an Johannes Bobrowski geschulten programmatischen Gedichten „Die Struga“ und „Lieder aus Slěpe“, über die „Popanz“-Gedichte der späten 1980er Jahre bis in jüngste Zeit spannt sich der Bogen. Vollständig ausgespart bleiben Beispiele visueller Poesie, nur vereinzelt rumoren sprachspielerische Momente: „Zwei Völker sind unvollkommen/ein Volk ist unvollkommen/ein halbes Volk ist unvollkommen/kein Volk ist vollkommen“.

Zeitgleich legt der Domowina-Verlag eine zweisprachige Sammlung „Essays, Gespräche, Notate“ von Kito Lorenc vor. Hier zeigen sich der theoretische Unterbau Lorencscher Poetologie, sein unermüdlicher Wille zum Bewahren sorbischer Geschichte und Geschichten, seine feinsinnige Selbstironie. „Noch weniger als Nationalitäten interessieren mich nur Parteien. Am liebsten mag ich Klavier (Kaviar überhaupt nicht), spanisches Ferkel und ungarischen Gulasch.“

(Erschienen in Sächsische Zeitung, 04.03.2013)


Im Frühlingsgarten zu Wuischke Juni 2017 (c) A. Hampel