Wulf Kirsten (1934 - 2022)
Mit Wulf Kirsten auf den Olymp
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Die Besteigung hat eine Vorgeschichte.
In Leonberg wurde im November 2010 zum zehnten Mal der Christian-Wagner-Preis verliehen. Die Jury wollte Helga M. Novak preisen, die jedoch krankheitsbedingt nicht anreisen konnte. Vertreten wurde sie vom vorherigen Preisträger Wulf Kirsten, der sich unverkleidet und ungeschminkt der Aufgabe wacker stellte. Aus verqueerer Sicht von heute eigentlich unvorstellbar, damals aber kein Problem. Ich war luftbereift von Gerbersau herübergefahren gekommen, wo ich im Namen von Hermann Hesse stipendisierte und mich auf der Suche nach der von Wulf Kirsten in die Literaturgeschichte eingeschriebenen Wasseramsel befand. Da kam mir eine Begegnung mit dem „Laienornithologen“ gerade recht. Wir trafen uns im abendlich verdämmerten Spitalhof des Stadttheaters, neben ihm eine verschattete Person mit sooo einen Bart, der Novak-Verleger. Ich wurde als nichtgeladener Gast auf Kirstens Platz verwiesen, der den Ehrenplatz von Frau Novak inne hatte. Auf dem Reservierungszettel war „Dr. h.c. Wulf Kirsten“ vermerkt. Er mochte die vielen Vornamen nicht. „Wulf“ genügte ihm vollauf. Den Zettel habe ich noch, ohne zu wissen, warum. Die Preisverleihung ging weihevoll über die Bühne. Kirsten spielte die Rolle „Novak“ souverän, mußte aber Urkunde und Preisgeld nach symbolischer Übergabe sogleich wieder zurückgeben, so daß ihm nichts blieb, als in ihrem Namen zu danken. Am nächsten Tag war eine Matinee-Lesung der Preisträgerin im Christian-Wagner-Haus angesetzt. Immer noch war Frau Novak krankheitsbedingt verhindert. Immer noch hatte ihr Verleger sooo einen Bart. Vertretungshalber las Wulf Kirsten die Gedichte der Poetessa. Danach beendeten Kirsten und ich, in unsere ganz und gar eigenen Rollen verstrickt, den nassen Novembersonntag in Gerbersau, nahmen die Spuren von Hesse und Wasseramsel auf, bevor ich anderntags W.K. zu Frau Sofia und Paul Schneider nach Weimar brachte. Als wir auf winterlicher Thüringen-Autobahn bei Matsch und Schnee Rentwertshausen passierten, wies W.K. rechtsnüberwärts auf die im Dunst gerade noch erkennbaren Gleichberge und sagte, jeder Dichter müsse wenigstens einmal im Leben den thüringischen Olymp bestiegen haben. Gesagt, getan.
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Die Besteigung.
Um aufzusteigen, stiegen wir Mai 2013 im „Hirsch“ zu Römhild ab. Das Grabfeld also. Um 1977 schrieb Helga M. Novak: „ich trete dem Grabfeld ins enge Herz/und bin mutlos über so traurige Gegend“. So traurig empfand ich die Gegend gar nicht. Aber ich fühlte in anderen Zeiten. Kein Sperrgebiet mehr, keine Grenze. Kirsten kannte sich aus. Was er nicht kannte, doch wissen wollte, erfuhr er in Gesprächen übern Gartenzaun. Obwohl die Kalte Sophie regierte, gingen wir den Kleinen Gleichberg bei über zwanzig Grad von der Waldhaussiedlung an. In den Rucksäcken Brote und Bücher als Wegzehrung. Die Hexenzwiebel überblühte den Basaltkegel. Knoblauchdämpfe stiegen uns in die Nase, als hätten hier keine Kelten sondern russische Muschkoten in Stellung gelegen. Ein Gipfelbuch gab es auf der Steinsburg nicht. Dafür zückte W.K. ein Heft, las daraus Gleichberg-Gedichte von Walter Werner, Harald Gerlach, Annerose Kirchner. Strophen in geschichtsträchtige Luft gesprochen, zweifelhafter Haltbarkeit überlassen. Helga M. Novak wohnte damals in Breitensee, unterfränkisches „Zonenrandgebiet“, von drei Seiten grenzumschlossen. Wulf Kirsten wies mir die Richtung. Unwirklich nah, sagte ich. Während Römhild'sche Gleichbergbesteiger sich die Augen bis 1989 womöglich gen Westen wund sahen, sah die Novak ihrerseits den ach so nahen Gleichberg fern zugleich, übersah „nicht das Messer am Hals“ beim weiten Blick zur keltischen „Fliehburg“ und sang ihr kleines Grenzlied: „wohin ist jene Stille/die mich anfangs bewog/ruhmlose Langeweile/als ich in solchen Landstrich zog//endlos staubige Grenze/die im Regenschatten liegt/zerfahren von Raupenpanzern/wie in einem längst vergeßnen Krieg“. Natürlich hatte W.K. auch jenen Brief dabei, den Hölderlin seinem Halbbruder Carl im August 1794 aus Waltershausen schrieb: „Letzten Sonntag war ich auf dem Gleichberge, der sich eine Stunde von Römhild über die weite Ebene erhebt.“ Also war längst und ein für allemal verbrieft, daß Hölderlin die „traurige Gegend“ mit seinen Füßen geadelt hatte, was den Begriff vom „thüringischen Olymp“ mehr als rechtfertigt. Abends feierten wir die olympische Besteigung im Altfränkischen Hof bei Spanferkel und Hackbraten, bestückt mit Thüringer Klößen, die in arg brauner Soße schwammen, was wir nicht kommentierten.
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Die Besteigung hatte ein Nachspiel.
Zwei Jahre später bestiegen wir den Großen Gleichberg von Gleichamberg aus. Beim Abstieg kam uns ein Pkw entgegen, den Wulf Kirsten anhielt, um den Fahrer erbost darauf hinzuweisen, daß hier ein striktes Fahrverbot herrsche. Lachend gab sich der Fahrer als Bürgermeister von Römhild zu erkennen, der eine Inspektionsrunde drehe. Verschmitzt stellte sich W.K. als WanderDichter von Weimar und mich als TalDichter von Dresden vor. Schnell herrschte eitel Sonnenschein. Die Rede war von Harald Schnieber alias Gerlach und dem einsiedlerischen Oberförster Gundelwein aus Haina, auch vom Wirt des Hirsch-Hotels, der beim Tauchen ertrunken sein soll, und von Helga M. Novak, ihren Jahren in Breitensee mit Horst Karasek, einem Bruder von Hellmuth Karasek, und dem Buch „Das Haus an der Grenze“, das von der „traurigen Gegend“ erzählt. Bei W.K. kam immer eins zum anderen. Oft stand oder saß ich daneben und hörte nur zu. Verkapselt in Erinnerung ist das heute noch so.
(Erschienen in: "Unterwegs mit Wulf Kirsten.Eine Freundesgabe", Elsinor Verlag 2023)
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Wulf Kirsten visiert 2015 vom Großen Gleichberg den Kleinen Gleichberg an (c) Foto privat |