J.R.B.Th.
nachgerufen 1949 - 2017
Das erste Mal trafen wir
aufeinander im Klubhaus des Kombinats VEB Pentacon, Schandauer
Straße, heute
„Medienkulturzentrum“.
Das muß 1971 gewesen sein. Beide gehörten wir dem dort monatlich
tagenden „Zirkel
Schreibender Arbeiter“ an. Was das für ein „Klub“ war, wie wir
in ihn hinein gerieten, sei dahin gestellt. Man traf sich, um selbst
verfaßte Texte vorzulesen und darüber zu reden. Jedenfalls war
Bernhard Theilmann der Einzige vom Typ „Arbeiter“. Nicht im Sinne
von „Greif zur Feder, Kumpel!“, vielmehr von der Sorte „Alle
Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will“. Genauso
diskutierte er. Kraftvoll, bedingungslos, ohne Rücksicht auf
Verluste. Bei unserer ersten Begegnung stellte er „Unter den
Rädern“ zur Diskussion, steht in meiner Kladde, was wohl ein
Gedicht gewesen sein wird, heute verschollen, wie so vieles, weil er
es verworfen, weggeworfen hat. Als es Ende 1974 hieß, das
„literarische Volksschaffen“ (O-Ton DDR-Kulturpolitik) müsse
weiterentwickelt werden, wurden auch wir entwickelt, stiegen auf,
wurden in eine „Fördergruppe Schreibender Arbeiter“ delegiert.
Auf der Gruppen-Liste fanden sich Namen wie Manfred Streubel und
Thomas Rosenlöcher, auch Herbert Schirmer, der 1990 letzter
DDR-Kulturminister werden sollte. Uns beschlich vorsichtiger Stolz.
Wohin aber sollten wir befördert werden? Auf die Höhen des Parnass?
Oder in die Bredouille? Letzteres kam prompt. Als wir 1976
nachdrücklich und unüberhörbar gegen Biermanns DDR-Ausbürgerung
stimmten, wurden wir hinauskomplimentiert. „Wir bitten Sie, dafür
Verständnis zu haben, daß wir auf eine weitere Mitarbeit Ihrerseits
verzichten müssen.“ Unser Verständnis hielt sich in Grenzen. Fast
packte uns darob unvorsichtiger Stolz. Nach dem Rausschmiß
betrieben wir unseren eigenen Zirkel in der Theilmann-“Kneipe“ am
Wolf-Platz. Nur er und ich. Nicht immer ging es um unsere Texte, aber
meistens ging es hoch her. J.R.B.Th. kritisierte maßlos. Klare
Ansagen, was mit Ach und Krach ging, was nicht ging und was gar nicht
ging. In dieser Reihenfolge. Ich war vorsichtiger, denn was ich gut
fand, schmiß er weg. Woran ich wagte, herumzunörgeln, hob er auf,
weil er es plötzlich interessant fand. Fast wünschte ich mir heute,
eine kleine Wanze hätte mit uns auf der den Kneipentisch dreiseitig
umlaufenden Bank gesessen. Dann wären ein paar seiner Texte
akustisch bewahrt geblieben, vorgetragen mit dem ihm eigenen Idiom.
Auch einige unserer hochfliegend tiefschürfenden Pläne. Als wir
noch gut bei Humor waren, konnten wir regelmäßig über Nachrufe auf
bekannte Künstler oder Politiker lästern. Die Gesetzmäßigkeit
schien darin zu bestehen, je übersteigerter ins Übermenschliche
nachgerufen wurde, umso schlechter waren Kunst oder Politik des
„teuren Toten“. Damals schworen wir, für unser Ableben
vorzusorgen, uns Nachrufe in verschiedenen Varianten selbst zu
schreiben und die Texte dem jeweils anderen zu überlassen, damit
dieser sie aus der Schublade ziehen könnte, wenn es soweit wäre.
Wir sind meineidig geworden, haben uns nicht an den Schwur gehalten.
Ich hätte J.R.B.Th. rechtzeitig daran erinnern sollen.
(veröffentlicht in: SAX 10/2017)
Silvester 1982/83 - Lesung aus Jandls "Humanisten" (Foto: B. Lorenz) |