19. April 2015

Günter Grass (1927-2015)

Die Häme darüber, daß auch Nobelpreisträger Grass ins Gras beißen mußte, hält sich in Grenzen. Vielleicht weil Schirrmacher auch tot ist. Als Grass 1999 der Nobelpreis zugesprochen wurde, saß ich im Künstlerkloster des pfälzischen Edenkoben. Noch in der Nacht der Bekanntgabe entstand ebenso schnell wie spontan das folgende Gedicht.

        Letzter Tag im September

        Donnerstagabend stellte ich einen Teller mit Oliven
           im Kaminzimmer auf den Tisch
           Die Schwedische Akademie hat den Nobelpreisträger für Literatur
           bekannt gegeben Günter Grass habt ihr gesagt

        Im Kamin orgelte Wind
           Tagsüber waren körbeweise Mandeln und Äpfel von den Bäumen am
           Straßenrand gestürzt Wir steckten neue Kerzen auf den Leuchter
           und zündeten sie an

        Die FAZken werden sich im GeSCHIRR der MeinungsMACHER
           überschlagen blasierte Herren die sich in Anzug und Krawatte
           hochgetreten haben ellenbogenwinklig aalwütig blindglatt sagte ich
           und meinte die Kritiker von Grass

        Regen strähnte gegen Fenster
           Nachtwärts kam kein einziger Stern hinter den triefenden Wolken hervor
          Auf dem Tisch dampfte ein Fleischkäse Wir schnitten ihn scheibenweise

        Als von Staats wegen unerwünscht war Druckerzeugnisse von München
           nach Dresden zu schicken wurde mir DIE RÄTTIN aus einem Paket
           konfisziert von Ratten in Uniform sagte ich
           und biß in den Käse

        Wind rüttelte an Fensterläden
            Etwas drückte die Flammen der Kerzen zur Seite ein Luftzug als wäre
            die Tür aufgegangen einen schnauzbärtigen Mann einzulassen

        Eine überlagerte Dichterin hat irgendwann zu mir gesagt
           es genüge nicht zornig zu sein auch für den Zorn gäbe es Bilder
           und zitierte eine Stelle aus Majakowskis WOLKE IN HOSEN
           später als sie sich unbeobachtet wähnte nahm sie einen Handspiegel
           aus der Tasche hielt ihn sich vor den Mund bleckte die Zähne
           und schien zufrieden

        Ausgefranste Wolkenränder zeigten Mondlicht
           Das Fladenbrot raschelte als wir es auseinanderbrachen
           Nicht eine Fledermaus kam hinter dem Kamin hervor

        Erst als DIE BLECHTROMMEL bei VOLK UND WELT erschien
           kam Grass nach Dresden zum Trommeln der Saal überfüllt kein Stuhl frei
           Er stand am Pult vor mir Ich saß auf Wellpappe vor ihm genügend Ratten
           waren auch dabei erzählte ich
           und füllte die Gläser erneut

        Nach einer Wanderung aß ich Flammkuchen trank neuen Wein als ich aus
           der Gaststube ging fragte ein Mann ob ich Herr Meitner aus Hauenstein
           sei ich würde aussehen wie Herr Meitner aussieht auf dem Foto
           in der RheinPfalz heute Aber ich war nicht Herr Meitner war nicht
           aus Hauenstein nicht in der RheinPfalz fast tat es mir leid

        Nicht Walser nicht Wolf nicht Heym nicht Enzensberger
           nicht Braun nicht Rühmkorf nicht Lenz nicht Simmel nicht Schneider
           nicht KlingKlang nicht Papenfuß nicht Grünbein nicht Schrott nicht
           Kirsten nicht Kirsch nicht Kunze nicht Kunert nicht du nicht ich
           nein Grass

        Von fern grollte Donner
           Die griechischen Weinblätter waren wohl gefüllt und gut geölt
           Wir wünschten uns Glück stießen mit Dornfelder an und klopften
           dreimal auf Holz was klang als klopfe ein schnauzbärtiger
           Mann seine Pfeife aus

        Wir redeten über das Sprechen in verschiedenen Sprachen daß du träumst
            in der Muttersprache daß du lebst in der Zweitsprache daß du aber
            liebst in einer Drittsprache die nur du sprichst redeten wir uns ein

        Von der Rietburg fielen Lichter durch eine Schneise auf weinfrohe Stadt
            federleicht weiß krochen Nachtgestalten allerlei Getier ums Haus
            Hunde und Schnecken Katz und Maus Ratten und Unken und ein
            Steinbutt krönte wortreich die Poesie der Nachbarn

        Himmelhoch schreiender Selbstbetrug der Sprache abzuverlangen
           was sie nicht kann statt von uns Abstand zu nehmen
           nimmt sie uns beim Wort

        Am Ende ließen wir die Kirche im Dorf alle Dinge im Kaminzimmer
           an ihrem Platz nur der Dornfelder blieb nicht in der Flasche
          die Kerzen bliesen wir aus und ein schnauzbärtiger Mann
          blieb am Kamin zurück aber er blieb im Haus


          1999